PORTUGAL IST MIR EINFACH NUR PASSIERT




PORTUGAL IST MIR EINFACH NUR PASSIERT

Diagnose
Ich knie auf dem Boden. Was immer ich auch versuche, jedwede Bewegung in jedewede mögliche Richtung, nichts geht.  „Wenigstens aufstehen?!“, wundere ich mich und staune über meine missliche Lage. Bestürzt sehe ich auf meine Beine, die bewegungslos übereinandergefaltet auf der Erde liegen und überlege. Es muss doch einen Weg geben, mich wenigstens vom Boden zu erheben?  Meine Augen wandern suchend herum. Nichts in greifbahrer Nähe, an dem ich mich hochziehen könnte.  Kriechen , Robben, Rollen, nichts geht. Ein gnadenloser, mir unbekannter Schmerz bremst unmissverständlich jeden Versuch spontan aus. „Indiskutabel“, resümiere ich und überlege, wie groß die Chance ist, dass hier ein Mensch meinen Weg kreuzt.
„Ich warte die Ergebnisse der Röntgenbilder ab, damit ich weiß, was da los ist. “ Ronny schaut nicht begeistert aus der Wäsche. Wir kommen am Reithof an und ich krieche mit meinen Krücken aus dem Auto. „Hinkelotta“, ruft Bärbel, die gerade ihr Pferd auf die Wiese gebracht hat, dort am Zaun steht und unsere Ankunft beobachtet. „Ja, ich dich auch.“, grüße ich zurück. Alle hier erleben live mit, dass ich Sportlerin bin. Wir lachen, der Umgangston ist herzlich hier und diese Sticheleien sind genau deswegen auch in Ordnung. Im Grunde sorgen sie sich, die Clique hier auf dem Reithof und es tut ihnen leid, denn sie kennen mich und erleben täglich, dass ich zwischen 12 und 30 km laufe, vom Hof nach Hause und umgekehrt, je nach Streckenwahl.  Mit Ronny bin ich fast täglich mit dem Pferd draußen unterwegs. Häufig sammelt er mich auch zu Hause ein und fährt mit mir gemeinsam zum Hof. So kann ich dort laufen und reiten. So auch heute. Das Laufen fällt natürlich aus, mit diesem Schmerz und auf Krücken.
„Willst Du etwa reiten?“, werde ich gefragt, nachdem ich mein Pferd so geparkt habe, dass ich , trotz der Schmerzen und Bewegungseinschränkung, von einer Erhöhung aus irgendwie auf seinen Rücken gelangen kann. „Hilfst Du mir mal?“, kontere ich und lasse mich wahrlich unelegant auf den Pferderücken hiefen. „Klar, einen Versuch ist es wert!“, antworte ich, während ich vom Hof Richtung Wald reite. „Und wenn etwas passiert?! Du kannst Dich doch nicht bewegen - ohne Krücken!“, folgt die Mahnung und ein Kopfschütteln. Also lasse ich mir noch die Krücken reichen und reite mit diesen quer vor dem Schoß vom Hof. Wenn ich geahnt hätte, dass ich mit einem Beckenbruch durch die Gegend reite!...und dass ich genau aus diesem Grund, eben dem Beckenbruch, bald meine Heimat  hier, mit den vielen Wäldern, in denen ich mich täglich etliche Stunden bewege, verlassen werde! Aber nein, ich konnte nicht wissen, dass ich bald in ähnlicher Weise - mit Kamera-Stativ statt Krücken auf einem Pferderücken durch die Pampa streife, um einen Werbefilm zu drehen…ich hätte allenfalls die Phantasie der Person bestaunt, die mir das gesagt hätte. Nein, alles passierte irgendwie – ohne Plan. Es passierte einfach.
Nun weiß ich es also – Beckenbruch. „Den Sport kann ich jetzt erstmal knicken", stelle ich resigniert fest. "Durch die Wälder rennen ist jetzt nicht", maule ich vor mich hin. "Jetzt habe ich ganz viel Platz, Platz für anderes!“, stelle ich versöhnt fest, als ich draußen in der Sonne sitze und gelangweilt in einer Pferdefachzeitschrift blättere. Der hinterste Teil ist der interessante. Dort sind die Inserate zu finden. Ein Deutscher, der nach Portugal ausgewandert ist, sucht eine/n Bereiter/in für ein Problempferd. Rasse: Quater Horse. "Mein Metier", denke ich. "Der sucht mich." Ich selbst habe ein Quater-Horse und mit Problempferden, wie die „Problem-Menschen“ ihre, meist von ihnen selbst verwirrten Tiere nennen, arbeite ich seit Jahren. Ich überfliege weiter die Inserate, lege die Zeitschrift weg, den Kopf in den Nacken und recke meine Nase gen Sonne. „Sommmmer!“, seufze ich tief. Ich schnappe mir meine Krücken und zuckel ins Haus zum Kühlschrank. „Das zischt“, denke ich, als ich meinen Durst lösche und wieder zurück Richtung Sonneplatz tapere. Auf dem Weg begegne ich dem Telefon. Daneben liegt die Zeitschrift.
„Hallo. Ich lese gerade das Insereat. Ist das noch aktuell?“


Blind-Date in der Algarve
In Portugal am Flughafen Faro fand dann mein erstes Blind-Date statt. Thomas, („Ich trage ein rotes Polo-Shirt.“), der Verfasser des Inserates, fuhr mit mir von Faro Richtung Westen – einmal quer durch die Algarve. Nein, ich ahnte nicht, dass dies einmal ein Motto für ein Reit-Abenteuer sein sollte, bei dem ich mit Pferd, Sack und Pack unterwegs sein werde!...namentlich dem „Ritt durch die Algarve“. Nein, wie auch. Ich saß gerade mit einem akuten Beckenbruch auf dem Beifahrersitz in einem teuren Wagen eines fremden Mannes und fuhr über die IP1 von Faro Richtung Lagos. „Eigentlich fülle ich doch nur die Zeit des Beckenbruchs und der sportfreien Phase“, erläutere ich. „Warum also nicht hier?“  Die Krücken habe ich zu Hause gelassen. Ich kann mich bereits ohne bewegen. Langsam. Das heißt: nicht rennen! Keinen Sport. „Ist doch eine gute Lösung – so zur Überbrückung, bis ich wieder rehabilitiert bin“, resümiere ich.
Ich ahnte nicht, was die Zukunft anbot.

Portugiesische Quinta
Wir verlassen die IP1 und wie beim Umblättern eines Bildbandes, so plötzlich und radikal, tut sich vor mir und um mich herum die Landschaft auf, in der ich wohnen und leben werde. Flach, trocken, heiß, baumlos, unbewohnt. Irritiert schaue ich Thomas an. „Wo willst Du hin?“ Während seiner Antwort erklärt sich auch, warum er einen Geländewagen fährt. Es rumpelt und rappelt wie in einem Pferdekarren im Mittelalter. Wir haben keine befestigte Straße mehr unter uns. Und es sieht auch nicht so aus, als würden wir jemals wieder eine sehen, wenn wir nicht umkehren sollten, vermute ich…womit ich auch Recht behalten sollte.  „Nach Hause.“, höre ich Thomas antworten. „Straßenbau verstehen die hier so.“, erklärt er, nachdem ich ihm einen Fragezeichenblick zuwarf. „Hoffentlich jetzt keinen Platten!“, schiebt er ein Stoßgebet hinterher. Mit vier prallen Reifen erreichten wir das Domizil. Es ist üüüüber- und überwuchtert mit bunten, südlich anmutendem Bewuchs. Blüten, Ranken, Büsche und Büschel zieren die Quinta, wie die Portugiesen ihre Häuser nennen. Spanisch gleichbedeutend mit Finka. Ich benötige einige Tage, bis ich begreife, dass es insgesamt 9 sind! Neun Quintas, die sich so geschmeidig in das Land fügen, dass ich Neandertaler, wie mich Freunde wegen meines ziemlich radikalen Naturempfindens nennen, nicht wahrgenommen habe. Wow! In der Villa, die Thomas bewohnt, begrüßen uns Naris und Charlie. Ein Hundepärchen, das wir auch noch näher kennen lernen werden.  Die Pferde suchen wir zu Fuß auf. Zunächst verwunschene Stufen hinab, umsäumt von Duft und Blumenrausch. Am Fuße der Stufen liegt ein Pool, davor leuchtet eine kleine Quinta, in krachendstrahelndem Weiß getüncht. Davor eine Außendusche –  sie sollte eine meiner großen Leidenschaften im Sinne von Lebensqualtität werden. Wir gehen wir weiter durch staubiges, rötliches Land."Terrakottaland", denke ich spontan. Trocken, heiß, staubig sind die Attribute dazu, die mir durch den Kopf schießen. Eine kleine Mandelbaum-Plantage löst, neben einigen Büschen, die pralle Feigen tragen, das verdörrte Land ab. In einer Senke liegt eine kleine Traumvilla. Über und über begrünt, ein Teppich leuchtenden Klees mit einem Meer gelber Blüten umsäumt sie, während ihr strahlendes Weiß das Sonnenlicht reflektiert. Im Nacken erhebt sich ein kleiner Hügel, auf dem ein Mini-Wäldchen mit krüppeligen Korkeichen das Anwesen zu beschützen versucht. Eine Oase im Nichts, im Nichts aus trockener, mehlig-staubiger roter Erde. (Die jedes weiße Pferd unrettbar in ein rosanes verwandelt, wie ich noch lernen sollte) Der Bereich der Pferde grenzt an das grüne Wunder, das den Bereich dieser Finka umgibt. Ich stehe auf der Terrasse und blicke scheinbar in den "Wilden Westen". Hitze umflirrt das trockene Terrain. Wieder so ein Bildband-Erlebnis mit Umblätter-Effekt. Meine Zeit im neuen Wirkungsfeld kann beginnen.

Trügerischer Frieden
„Beinahe wie zu Hause.“, lache ich spontan heraus, als sich ein Freund  via Telefon erkundigt, wie es mir in Portugal so ergeht. Das wiederum möchte mein Gesprächspartner nicht ganz glauben. „Sunny? Alles in Ordnung bei dir?“  Das Leben im Süden Portugals, so, wie ich es hier lebe, mit den Pferden und in der Natur, ist im Grunde ein Spiegel dessen, was ich auch in Deutschland lebe. Die Pferde, die Aufgaben und die freie Gestaltung des Tages, die Begegnungen –  bis auf das südländische Terrain, ist es doch eine adäquate Lebensgestaltung. Im Grunde fehlt nur der Sport. Wahrscheinlich sind Gewohnheiten die größten Süchte eines Menschen. Wen wunderts, dass ich gelegentlich unbändige Lust auf ein Läufchen verspüre? Wenn ich vom Pferd gleite, unter der Außendusche Staub und Schweiß abspüle, in meine Laufschuhe, Top und Sprinterhose schlüpfe und in die Weite des Landes schaue?!  Ist es verwunderlich, dass ich dann „einfach mal kurz, nur für ein paar Meterchen" losjogge? Es war in der ersten Etappe meines Portugisischen Lebens jedesmal ein Reinfall. Für einige Kilometer ging es gut, dann stand ich da mit Schmerzen und musste hinkend den Weg zurück finden. Was mir auch nicht immer auf Anhieb gelang. Sicherlich habe ich den Heilungsprozess um Etliches herausgezögert. Es ist ein trügerischer Frieden, wenn das tägliche Schaffen schmerzfrei von Statten geht – reiten, Sattelzeug schleppen, Heuballen stapeln, was auch immer…es funktioniert doch problemlos. Doch in den Laufschuhen werde ich jedesmal eines Besseren belehrt.
Beckenbruch: Reiten geht, Laufen nicht

Begegnungen / Jan
Zum Glück hatte Thomas viele Reitermenschen im Freundes- und Bekanntenkreis, die allesamt neugierig waren, wie ‘die Deutsche’ es geschafft hat, dieses wilde Tier zu reiten, an dem sich wohl jeder von ihnen schon versucht haben mag. Nach und nach tröpfelten diese Personen auch in mein Leben. Immer wieder neue Bekanntschaften, Menschen und Lebensformen, die ich kennen lernen durfte. Diese Gelegenheiten nahm ich zwanglos und unbefangen wahr. Die Zeit hatte ich ja. Und Lust zu leben auch.  Jan zum Beispiel. Es liegt nicht daran, dass er einen meiner liebsten deutschen Namen trägt, um mir als der Inbegriff eines Symphatieträgers zu begegnen. Jan, das klingt so bejahend. Alles Positive im Leben beruht zunächst auf Bejahung, wenn man so will. Die offenen Schuhe, sein Markenzeichen, drücken Lebensgefühl aus. Offen, nicht, weil sie offen gestaltet sind, sondern, weil er sie einfach nicht schließt. Nie! Senkel halten den leichten, luftigen Sommerschuh einfach lose beisammen. Gebunden werden sie nicht. Das ist, was dieses fröhliche Erscheinungsbild, des  aus den Niederlanden stammenden und führenden Maklers in Portugal, unter anderem unterstreicht. Jan  zählt zum näheren Kreis von Thomas und findet sich mit seiner Finka in unmittelbarer Nachbarschaft. Soweit man dies als unmittelbare Nachbarschaft zählen kann. Aber es liegt nun mal nichts weiter zwischen uns, als pures Land. Zu meiner großen Freude hat Jan sich ein Pferd (das rosane) angeschafft, das bei unseren sein zu Hause fand. Sprich, in meiner Obhut landete.

Begegnungen /Henrique und Deborah
Noch vor meiner Abreise nach Deutschland besuche ich mit Thomas Freunde von ihm im Westen des Landes. Diese leben dort mitten im Naturschutzgebiet und züchten wirklich eine überschauliche Anzahl Pferde. Für unseren Besuch dort verladen wir Fancy und Chicco in den Pferdehänger, verlassen mit ihnen die Algarve und fahren Richtung Aljezur. Dort erlebe ich mit Thomas, Henrique, der das Abbild eines Vollblut-Bilderbuch-Portugiesen ist und seiner Frau Deborah, die aus Neu Seeland eingewanderte, um hier ihren Traum zu leben, gemeinsam einen unglaublichen Tag in unglaublicher Ambiente. Wir brechen zu einem Tagesritt auf und ich weiß, dass sie wirklich neugierig auf Fancy, das Problempferd, waren.  Mir entging auch nicht, dass ich mit großem Staunen wieder verabschiedet wurde, nachdem ich ihnen Fancy als rittiges Pferd präsentierte, auf diesem, für die Tiere konditionell und technisch nicht einfachem, Tagesritt. 
Tagesritt inklusive Strandritt: - wenige Augenblicke vor der Strandgaloppade
Nein, Ich ahnte nicht, wie zukunftsweisend dieser Tag zwischen Dünen, leeren Küsten und Buchten, Klippen mit atemberaubenden Blicken, Flussdurchquerungen, Strandgaloppaden und Bad im Meer werden wird. Auch nicht, als Thomas mich später wissen ließ, die beiden hätten angefragt, ob ich wohl Zeit und Interesse hätte, ihre Pferde auszubilden und zu trainieren.

Begegnungen / Bert und Galita
Und dann Bert…hätte mir jemand erzählt, dass mir Bert über den Weg laufen, hups, reiten wird, mit seiner Feder am Hut, auf Galita, seinem Lusitano-Pferd…und dass ich mit ihm einkaufen reiten werde – selbstgebackenes Brot aus einem Steinofen, von Freunden, die einige Stunden Ritt entfernt, die irgendwo im Landesinneren ihr bescheidenes zu Hause bewirtschaften…ich hätte geantwortet, doch nicht in einem Märchen zu leben.

Begegnungen / Berittene Polizei
Und wenn wir gerade beim Märchen sind, komme ich auch noch zu dem Märchenprinzen, Antonio, den ich eher in einer kitschigen TV-Story als Darsteller dessen, was er wahrhaftig verkörpert, erwartet hätte. Aber dem Kitsche zum Trotze, alle Protagonisten sollten wahrhaftig und lebendigst auf der Plattform Leben in Portugal erscheinen. Ich staune selbst, dass Antonio, der Prinz, noch heute, dreizehn Jahre später, in meinem Leben ist. Doch zunächst geht es ersteinmal zurück nach Deutschland.
Berittene Polizei aus Lagos

Der Deal
„Oldy muss mit.“  Es besteht kein Anlass nachzudenken, ob oder ob nicht. Die Frage, die sich stellt ist: Wie Hinkommen? Wo unterkommen? Für diese Fragen nahm ich mir Zeit, als ich zurück in Deutschland war und mich mit dem Gedanken auseinandersetzte, ob ich mein Leben ersteinmal nach Portugal verlegen sollte. Überraschenderweise fand sich eine rasche Lösung, so rasch, dass dies fast unheimlich war: Mein Pferd bleibt wo es ist, 3 Freunde, die täglich im Stall sind, kümmern sich darum, während eine Person die Hauptrolle und die gesamte Verantwortung übernimmt. Sie kennt mich und mein Pferd sehr genau, das restliche 'Breefing' gab ich den beiden täglich, bis zu meiner Abreise. Die Praktikantin des Hofes ließ ich in meinem Domizil wohnen – auf über 200 Quadratmetern, mit Garten, in dem sich u.a. auch Rehe zu Hause fühlen, so unmittelbar am Wald und ruhig gelegen ist die Bleibe. Sie war glücklich darüber, aus dem Kellerloch, in dem sie hauste, heraus zu kommen und ihre Mutter übernahm sogar die Miete für diese Zeit. Welch ein schöner Deal. Nun habe ich den Rücken frei, mich in Portugal umzusehen und vor Ort abzuchecken, ob ich auf Dauer will und kann, was sich mir im Süden bietet. Drei Monate habe ich dafür eingeplant, die sollten dafür reichen.  Also hopp hopp, auf auf zum nächsten Landeanflug nach Faro und den Geschichten und Erlebnissen, die da folgen mögen…
Probeleben in Portugal
Hier wurde ich schon mal geritten
"Du bist aber weit gelaufen!", staunt der Mann neben mir im Auto, während wir durch die Dunkelheit über unwegsames Gelände rumpeln. "No.", antworte ich kurz und knapp, nachdem ich die Strecke rasch in Gedanken überflog, die ich heute unter strahlend blauem Himmel lief. Laufen heißt für mich nicht Gehen, sondern eben Laufen. Rennen. Joggen. Jetzt, nachdem mein Beckenbruch verheilt ist. Wie auch immer. Das mag den Arzt neben mir, der den Wagen lenkt, beeindruckt haben. Mit einem anerkennendem Nicken betont er meine ausgeprägte Muskulatur. Mich beeindruckt das nicht, ich bin Sportlerin und kenne es nicht anders. Sein Schmunzeln kann ich im Dunkel des Autos fast wahrnehmen, als er leise erstaunt meine Antwort wiederholt: "No!?" Immerhin fuhren wir nun schon eine ziemlich lange Weile durch das Land.
Ich weiß nicht, woher ich meine Unbefangenheit nahm. Angst vor irgendetwas oder irgendwem kannte ich zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht. Nicht, als ich aus dem Landesinneren gestartet bin, durch die Sonne lief, das Land unter meinen Füßen spürend, zur Küste, über die Klippen und hinab an das Wasser. Nicht, als ich durch die vielen kleinen Buchten lief, die zwischen den Klippen nisteten. Nicht, als ich meine Getränkeflaschen in einer Bucht ablegend, ein kühlendes Bad im Meer nahm. Und auch nicht, als ich weiterlief, zu einem kleinen, typischen, vor Südländigkeit nur so strotzendem Dörfchen, mit bunten Blumen vor weißgetünchten Häuserwänden. Nicht, als ich am Ortsrand das Haus derer fand, die mir ein Fahrrad an diesem Tag leihen wollten. Immer noch nicht, als ich dort niemanden antraf. Zerknirscht über meinen missglückten Plan, mit dem Rad wieder zurück zu fahren, war ich. Mehr nicht. Schnell wird mir klar, dass ich wohl zurück laufen werde. "Ok", nicke ich diesen Gedanken ab, "je früher, desto besser!" und beschließe sofort aufzubrechen. Etliche Male hatte ich mitten in der Pampa gestanden und wusste nicht in welche Himmelsrichtung ich mich nun bewegen sollte. Mir fehlen hier einfach die Bäume zur Orientierung, so wie ich es kenne, aus meinem Leben im Wald. Wie oft habe ich mich hier in den letzten Tagen und Wochen verlaufen, mit und ohne Pferd, im nahezu baumlosen Süden, der lediglich hi und dort eine Korkeiche, ein Mandelbäumchen, oder einen Affenbrotbaum zur Orientierung bereit hält! Meine Gedanken wandern zu jenem Tag zurück, als ich mich in der Mittagssonne leicht bekleidet auf den ungesattelten Pferderücken schwang und tief in der Nacht glücklich über den warmen Pferdeleib war, der meine nackten Beine wärmte, während ich orientierungslos durch ein dunkles Nichts aus Staub und trockener Erde ritt, mit einem Pferd, das mir so endlos vertraute, dass es nicht auf die Idee kam, von alleine den Heimweg anzutreten, solange ich ihm diesen nicht vorgab...Himmel, war das schön, als sich ersten Sonnenstrahlen über den Horizont schoben und ich rund 24 Stunden später die Gegend meiner neuen Heimat hier im Süden wieder erkannte. "Also, andale arriba!", erwache ich aus meinen Gedanken und feuere ich mich an."Starte durch, Sunny, sonst erlebst Du solch einen Mist erneut, diesmal erschöpft vom Laufen und ohne(!) Pferd!" So steuere ich also den Weg zum Strand an, von dort die Klippen im Visier, die ich als nächstes erklimmen werde, um dann hoffentlich ganz geschmeidig zurück zu finden - auch, wenn es in der nächsten Stunde dunkel werden wird.
 "Hey, I saw you. Do you need any help?" Diese Stimme lenkt meinen Blick von der Klippe wieder gen Boden und meine Augen treffen die eines Typen, den ich natürlich nicht kenne. Ich kenne niemanden hier. "My name is Dan", stellt er sich freundlich vor und er beschreibt, wie er mich beobachten konnte, von seinem Platz aus, an der Promenade des Örtchens. Wie ich über die Klippen und kleinen Buchten rannte, vor die verschlossene Türe des vermeindlichen Fahrradverleihers bollerte, an Fenster klopfte, fluchte und dann erneut  losrannte. "Das ließ vermuten, dass Du vielleicht Hilfe brauchst?" Mit zwei Sätzen war meine Lage erklärt und Dan, ein Arzt mittleren Alters aus New York, wie er mir berichtete, bot mir an, mich zurück zu fahren. Alles, was ich im Sinn hatte war zurück zu kommen, ich trug die Verantwortung für die Pferde dort im Landesinneren. "Ok", beschließe ich laut denkend, "das ist ok". Und wir gehen gemeinsam zum Auto, mit dem wir nun durch die dunkle Nacht rumpeln, irgendwo im Nichts.
Mag mir einer der Leser erklären, warum ich keine Angst hatte? Immerhin, ich war spärlichst bekleidet mit meinem hautengen Lauf-Outfit, das zusammengefaltet nicht mehr Platz beansprucht, als ein Tempotaschentuch! Ich saß bei einem fremden Mann im Auto und fuhr durch die Nacht, fernab der  Zivilisation. Nur Pampa und schwarze Nacht. Erst als ich mich versehentlich mit der Grammatik verhaspelte, kamen mir Bedenken: "I have already been ridden here!" quietschte ich freudig los, als ich vertrautes Terrain zu sehen glaubte. Im Moment des Aussprechens war mir klar, was ich da vom Stapel lasse! Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Dan zu mir hinüberschielt, ein Fragezeichen im Gesicht. Sichtlich verunsichert, ob ich einen Witz zu machen versuchte, indem ich ihm gerade erzählte, hier bereits einmal geritten worden zu sein und auf der Suche danach, wie es noch gemeint sein könnte. Da hing also dieser Spruch plötzlich im Auto, zwischen diesen beiden Menschen, so im Dunkel der Nacht. Au weia! 

"Hey, look there!", pruste ich los, als ein Steinkäuzchen im Scheinwerferlicht auftaucht.  Dan verlangsamte den dahinrumpelnden Wagen und stoppte. Wir betrachten schweigend das Käuzchen dort auf der Erhöhung vor uns im Scheinwerferkegel. Scheinbar. Scheinbar war alles ganz harmlos. Und dies soll auch so bleiben! So öffne ich die Beifahrertür, wissend, dass ich zu Fuß schneller sein werde, als er - mit oder ohne Auto - und verabschiede mich mit den Worten: "Danke Dan, hier kenne ich mich aus, es ist nicht mehr weit, gleich dort vorne..." Ich schmeiße die Tür zu und ein dumpfes "wmmp" setzt den Punkt hinter meine Aussage.  Durch das geöffnete Fenster lässt Dan verlauten, dass ihn das beruhige - er sei sich nicht sicher gewesen, ob ich ihm etwas antuen wollte...
Der Kauz und die eigentümliche Ansammlung verkrüppelter Mandelbäume waren aber tatsächlich ein Indiz für mich, fast zu Hause zu sein und so verschwand ich einfach in der Nacht, tauchte in die flach, aber wild bewucherte Senke und konnte in einiger Entfernung bereits die Silhouetten der Pferde ausmachen. Ihr brubbelndes zartes "Hallo-Futterlieferant-Wiehern" nahm mir die Ahnung des Schreckens, der da so plötzlich auftauchte. Ich füllte die Tränke auf und begann mit der Fütterung.
Abendstimmung hinter meiner Terrasse
Am nächsten Morgen dachte ich noch einmal an Dan und bog mich vor Lachen über seine spitzfindige Bemerkung. Doch dann war die Situation genauso schnell wieder vergessen, wie ich mich in sie hinein und hinaus begeben hatte.

Mein Milliardärsleben
Sportliche Kröte
Ich lief und ritt weiter tief und weit durch das Land, erlebte es hautnah, ohne Plan und Projekt, einfach, weil ich bin und lebe. Nicht, dass es ein haltloses Dasein gewesen wäre, ohne Boden und Basis. Nein, im Gegenteil. Ich bewegte mich auf wahrlich festem Boden. Mein Arbeitgeber ist nun mal ein ruhesuchender Milliardär, mit einer Ansammlung von portugisischen Traumhäuschen, die er an Ruhe suchende Touristen vermietet. Er hat mir eins davon zur Verfügung gestellt und wahlweise kann ich einen Geländewagen, oder einen Mercedes-Oldtimer-Cabrio fahren, als Dienstwagen, sozusagen. Vor meiner Tür stehen phantastische Pferde, mit denen ich lebe. Ich lebe meine Leidenschaft und werde dafür bestens entlohnt. Faktisch und weniger leidenschaftlich klingt das etwa so: ich arbeite. Auch wenn es sich nun wirklich nicht so anfühlt! Bis ich in einem Objekt sesshaft zu werden plane, bewohne ich wechselweise die Traumfinka oder das Objekt mit Pool. Die Außendusche und Becken erfrischen mich aber täglich, egal wo ich schlafe. Sie erquicken mich zwischen Staub, Schweiß und Pferden.
Der Pool bietet mir heute Morgen eine unterhaltsame Einlage: Ich hänge außen am Beckenrand und angel mit dem Köcher nach einer Kröte, die unermüdlich Bahn für Bahn mit ihren kräftigen Schenkeln Bahnen zieht. "Kacheln zählen. Stinklangweilig. Das arme Ding!", bedaure ich das stattliche und offenbar gut trainierte Tier. Kacheln zählen nennen wir Ausdauersportler das Schwimmtraining im Winter. Seit nunmehr knapp zwei Wochen gehört das Kröten-Fischen zu meinen morgendlichen Aufgaben. "Ob es immer die selbe ist?", wundere ich mich und denke schon darüber nach, ihr einen Namen zu geben. "So, diesmal schleppe ich dich bis über den Horizont!", drohe ich dem stattlichen Teil im Köcher. "Können Kröten eigentlich auch ertrinken?", frage ich mich, als ich mit meiner 'Beute' durch den immer heißer werdenden Morgen laufe, "oder vertrocknen sie eher?!"
"Sollte sie morgen Früh wieder im Pool plantschen, baue ich ihr eine Aussteigehilfe!", beschließe ich und setzte meinen Weg fort.
Herrenlose Hunde
"Ach Naris, du bist wunderbar!", lache ich und zuppel diesen vierbeinigen Wildfang am Schlappohr. Nach erledigtem Pferdeversorgen, Krötenfischen und Morgenaußenduschen, wandere ich weiter über das Gelände zu der Anhäufung von Villen meines Arbeitgebers, der selbst in einer dieser wohnt. Eine Dienstbesprechung steht an. Narrisch, eigentlich portugisisch Naris - gleichbedeutend mit Nase, bringe ich mit. Sie ist ein südländisches Findelkind auf vier Pfoten.  Eins ihrer prägnantesten Körperteile ist ihre überdimensionale Nase. Sie ist ein freier, selbständiger Hund, der zwar ob seiner Jugend tapsig wirkt, aber sein Leben hier Draußen wunderbar meistert. Kein Ritt durchs Land, an dem sie nicht mitläuft! Es ist wunderbar, dieses wilde, vertrauensvolle, freie Lebewesen um mich herum zu haben. Eigentlich hat mein Chef sie eingesammelt, als sie herrenlos herumstreunte, aber ganz eigentlich und ganz wirklich hat Narrisch keinen Besitzer - sie gehört nur sich selbst, sonst niemandem.
Man begegnet nicht selten herumstreunenden, herrenlosen Hunden. Häufig sehen sie bemitleidenswert hungrig aus. Wenn ich ihnen beim Laufen begegne, wünsche ich mir stets, dass sie sich nicht ausgerechnet jetzt daran erinnern, dass sie vom Wolf abstammen, denn selten trifft man auf einen einzelnen. In Rudeln streifen sie durch die Gegend. In Rudeln könnten sie auch jagen. Immerhin sollen es auch ehemalige Jagdhunde sein. Diese Information erhielt ich mehrfach auf mein Nachfragen. Dankbar beobachte ich im Laufe der Zeit, dass es immer wieder und überall auch Menschen gibt, die sich ihrer annehmen. In den Supermärkten bekommt man große Säcke sogenannten Hundereis - eine günstige und praktische Möglichkeit, Bruchreis an den Mann und in den Hundemagen zu bringen. Übrigens auch in meinen. Befremdlich oder nicht, ich habe mir regelmäßig eine Masse Essen davon gekocht, die ich, je nach Bedarf, gesüßt, mit Früchten oder gesalzen angerichtet habe. Kohlenhydrate benötigte ich für mein Training, meinen langen Tag draußen. "Ist doch dem Leben eines Hundes sogesehen ähnlich?", rechtfertige ich mich. Nur bellen habe ich nicht gelernt. Mit und mit verlor ich die Bedenken, wenn ich beim Training den Tieren begegnete. Mein ganzes Herz habe ich ihnen allerdings erst später entgegen geworfen, als Naris verschwand und ich Tag und Nacht an den Klippen, Stränden und Buchten nach ihr suchte. Eines Morgens erwachte ich am Strand nähe Luz, einem kleinen Ort bei Lagos. Ich beobachtete, wie plötzlich Hunde herbeiströmten, viele Hunde! Sie trafen sich dort, um gemeinsam zu spielen. Diesem Ritual habe ich noch manches mal klopfenden Herzens zugesehen. Und die ein oder andere Nase wiedererkannt. Naris aber zeigte sich dort nicht. Nun, noch ist sie bei uns und macht soeben ihrem Namen alle Ehre.
"Solange Naris sich nicht in geschlossenen Räumen aufhält, wirkt sie auch ihrem Alter entsprechend", lasse ich schmunzelnd verlauten und nehme das ammüsierte Grinsen von Thomas, ihrem Besitzer, wahr.  Prompt dreht sie den Kopf, als sie ihren Namen hörte, rums, Nase am Stuhlbein gerammt. Woraufhin sie den Kopf hilfesuchend und leicht beschämt zu mir hoch hebt, zack, Nase an der Tischkante gestoßen. Sie flüchtet durch die Villa, pong, Nase im Türbogen hängen geblieben. Gnade, oh Gnade, wehrt sich das Tier in mir, das sehr großes Verständnis für ihre Wildheit aufbringt und ich verlasse mit ihr die Räumlichkeiten. "Frühstücken können wir doch auch draußen!", lasse ich Thomas wissen und trage die Schüsseln und Schälchen mit frischem Obst auf die Terrasse in einen schattigen Platz.
Feigenkaktus
Mein Blick schweift von der Terrasse über das Land, während ich mir eine Stück gekühlte Melone in den Mund schiebe. "Ob deren Früchte auch so gut munden?", denke ich versonnen auf die Kakteenhecke blickend. "Hecke in südländisch", sinniere ich vor mich hin. Man sieht diese Pflanze häufig als Einfriedung von Grundstücken. Die Früchte sind von haardünnen Stacheln ummantelt, die tückischerweise mit Widerhaken versehen sind. Ich lasse es bei dem Gedanken und beschließe nicht wieder zu versuchen, an das Fruchtfleisch des Feigenkaktuses zu gelangen. "Das eitert von alleine raus.", war der Kommentar, den ich mir nach dem ersten Versuch anhören konnte. 
Frühstück und Gespräch waren soweit beendet und Thomas, von Berufs wegen ein Filmproduzent, wird später mit mir via Pferd losziehen und einen Werbefilm drehen. So kann er seine Objekte besser bewerben, sagt er und die Pferde sollen mitwirken. Im Inland gibt es eine große Wanderdünde, die das Ambiente für den Film bieten soll, das sich der Milliardär im Reitsattel wünscht. Als die Sonne etwas tiefer steht, machen wir die Pferde startklar, schwingen uns samt Equipment in den Sattel und brechen auf.

Die Dreharbeiten
Wind weht über den sandigen Boden. Die Hitze  des Tages liegt flirrend in der Luft. Eine  krüppelige Korkeiche reckt ihre trockenen Zweige in den glühenden Himmel. Zwei Reiter trotten der untergehenden Sonne entgegen. Cut! Die Schluss-Szene ist immer noch nicht perfekt, aber wir kriegen das schon noch in den Kasten. Spätestens der Schnitt wird’s richten. Später. In der Villa. Aber das soll meine Aufgabe nicht sein.  „Galoppier doch noch mal dort über die Düne.“, nehme ich die Bitte entgegen, durstig und schwitzend unter meinem Cowboy-Hut. „Fancy, Engelchen, wir müssen noch mal“, raune ich dem Quater-Horse unter mir zu und lenke sie zurück an den Ausgangspunkt unserer letzten Galoppade. „Sie ist phantastisch“, denke ich voller Dankbarkeit, denn ich kam hier hin, um dieses unbändige, unreitbare Tier zu einem reitbaren umzugestalten. So zumindest, lautete meine Aufgabe. Ich befinde mich in einem Reiterland und jeder namhafte Reitmeister hat wohl schon auf diesem Pferd gesessen und es als „schlecht“ und „nicht zu reiten“ abgehakt. So trug man es mir zu. „Selbst der Ami, den ich hab einfliegen lassen, einen namhaften Pferdetrainer, hat nur noch den Kopf geschüttelt. „Ein Glück, dass ich kein namhafter Pferdetrainer bin“, flüstere ich mir und Fancy glücklich zu und trabe gemächlich durch den Sand. „Uuuund ab!“, höre ich und wir galoppieren noch perfekter, noch ansehnlicher, noch werbewirksamer, in noch besserer Einstellung über die Düne, die Anhöhe hinauf, der Sonne entgegen…
„Ok, das war peeerfekt! Was kann man sich für einen Werbefilm noch wünschen, als ein Cowgirl, das vorbeigaloppiert und so gewinnend in die Kamera lächelt!“, ist das Resüme des Produzenten. Wir schnüren das Equipment wieder an die Sättel und stopfen den Kleinkram in die Satteltaschen. Müde, durstig und staubig trotten wir durch das Land.  "Ich bedaure, dass diese Szenerie von niemanden gefilmt wird.", lache ich und kämpfe mit dem Stativ, dessen Gestänge mir unangenehm im Rhythmus der Pferde-Gangart an mein Knie klopft.  Die 'An-und Abreise' bleibt unvergessen und wäre, meiner Meinung nach, das bessere Werbe-Viedo geworden. Schade, dass dies noch vor der Jahrtausendwende stattfand und Youtube noch erfunden werden musste. Also überlasse ich es der Phantasie des Lesers, wie Cowboy und Cowgirl durch die Pampa streifen, um das Leben im südwestlichsten Teil Europas für den nordischen Part schmackhaft zu machen.
Mit trockener Kehle kehren wir zurück zu den Oasen des Reichtums, des materiellen Reichtums, um es exakter auszudrücken! Die Sonne hängt tief und schickt ihre warmen Farben über das Land, noch während wir hungrig die Pferde absatteln. Augenblicklich beginnen die Grillen ihr Konzert. "Das ist der wahre Reichtum!", seufze ich zufrieden. Schweigend Licht und Akustik des Abends genießend, verrichte ich die Arbeit. Das knirschende Leder will vom feinen Sand befreit werden. Satteldecken und Pferde dusche ich mit dem Gartenschlauch ab. Dreck und Staub fließt in kleinen Rinnsalen nicht nur aus dem Pferdefell, sondern auch an meiner gebräunten Haut hinab, wo mich das Spritzwasser erreicht. Dieser eigentümliche Geruch von Schweiß, Arbeit und Glück ummantelt mich. Es hindert mich nicht, unter die Dusche und in den Pool zu springen, um Schmutz und Schweiß abzuspülen und Muskulatur zu lockern. Das Glück bleibt an mir hängen, so what!

Eselkarren und Cabrio
„Komisch“, sinniere ich, während ich den Oldtimer auf das Bergdörfchen zusteuere, „Komisch, ICH in einem AUTO!“ Die begrenzte Zeit hier, kombiniert mit der überraschenden Möglichkeit mit diesem „Firmenwagen“ mehr Portugal kennen zu lernen, habe ich spontan genutzt. Naris sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, denn der Mercedes bietet sonst nicht den erforderlichen Stauraum, für den Transport eines mittelhohen Hundes. Naris sieht mich an, reckt mir ihre große Nase entgegen und versucht sich dann ungelenk auf dem Sitz so zu platzieren, dass ich ihren Bauch kraulen kann. „Neeee, nicht Reeperbahn, nicht hier!“, schelte ich sie liebevoll. „Reeperbahn“, das war nicht meine Idee – es war eine Gemeinschaftsproduktion, wenn man so will. Alle Viere von sich strecken, wonnevolles Räkeln und breit dabei Grinsen, das hat Naris erfunden, ganz alleine. Das Kommando dazu entstand in fröhlicher Runde, im Schatten sitzend, auf der Terrasse. Nein wirklich, ich bin unschuldig! Ich habe ihr andere Kommandos anheim kommen lassen – „Wo ist das Auto?!“ zum Beispiel. Mehr als einmal habe ich nämlich an mein stundenlanges Lauftraining noch weitere Stunden dranhängen müssen, weil ich den Wagen nicht wiederfand!. Naris fand ihn immer! Wenn sie Lust hatte…! "Wo ist der Hund?!", war allerdings auch oft ein Anlass für überlange Trainings-Einheiten! Unvergessen bleibt meine stundenlange Suche rund um den Barragem, einem Stausee. Ich sah sie, beobachtete in welche Richtung sie streunerte, checkte den kürzesten Weg ab, rannte Berge hoch, stolperte über Geröll durch die Hitze, dehydrierte und brachte mich an den Rande der totalen Erschöpfung, um ihr entgegen zu laufen, doch jedesmal tauchte sie wieder am gegenüberliegenden Ufer auf...Daraus und aus keinem anderen Grund war die Idee gewachsen, es mit einer Leine zu versuchen. Ich dummer Mensch, ich! Naris quittierte diese mit lautem, herzzerreißendem Gejaul. Sichtlich verängstigt presste sie sich auf den Boden. Ich schmiss vor Schreck die Leine hin, versuchte sie zu beruhigen und lief einige Meter von ihr weg, damit sie versteht, dass sie trotzdem frei ist. Ja, sie verstand: Blitzschnell erhob sie sich und rannte davon. Zwei Wochen habe ich nach ihr gesucht, auf Klippen und an Stränden schlafend, nahe dem Ort, wo ihre Flucht begann. Aber ich erwähnte es schon - Naris gehört niemandem. Naris gehört sich selbst. Und so stand sie eines schönen Morgens mit ihrer entsetzlichen Leine im Schlepp, auf der Terrasse und freute sich ein Bein ab! Na wie auch immer, wir schleichen im gemachen Schrittempo die immer schmaler werdenden Gassen des Bergdorfes hoch und immer höher. 

Eukalyptus
Oben parke ich für gewöhnlich und kann mit Naris durch Eukalyptuswälder laufen, ein Genuss! Eukalyptus wird hier großflächig zur Papiergewinnung angebaut. Im zehnjährigem Abstand wird die Krone der Bäume gekappt. Nach dem vierten mal werden sie gefällt und sogar die Wurzeln ausgegraben. "Das wiederum", bemerke ich, "ist nicht Natur pur, sondern Forstwirtschaft.", als ich mich mit Freunden über die hiesige Vegetation austausche. "Der Boden braucht bis zu sechs Jahrzehnte, um sich zu erhohlen!", werde ich belehrt, als ich meine Begeisterung für die Eukalyptuswälder rauslasse. Wenn man nicht zu tief ins Landesinnere vorgedrungen ist und die Bäume den Blick auf das Meer freigeben, ist es trotzdem ein Idyll. Zunächst aber wackelt ein anderes Postkarten-Idyll auf mich zu. Ich stelle den Motor ab und staune gemeinsam mit Naris über das, was sich da durch die Gasse bewegt: Die Häuserdachhöhe überbietend schiebt sich ein Berg Heu langsam vorwärts. Mein Blick wandert hinunter und ich entdecke den Esel und einen alten Mann. Augenblicklich transformiert mich dieses Bild in ein anderes Jahrhundert. Wie hypnotisiert verfolgen Naris und ich die gemächliche Fortbewegung. Wie sich das überhaushohe Heu durch die Gasse schiebt, während es deren gesamte Breite, von Hauswand zu Hauswand beansprucht. Der Esel und der knöchrige Portugiese scheinen unwirklich, so sehr decken sie das Klischee ab. Selbst Naris fällt die Kinnlade runter. Als ich den Mercedes wieder starte, holt mich das aus der Hypnose und zurück ins Leben. Wir biegen in die nächste Gasse und fahren die letzten Meter an den oberen Rand des Dorfes in die Berge. Nach dem Lauf  spiele ich „wo ist das Auto?!“ mit Naris, nur so zur Festigung und belohne sie, indem ich das Dach öffne für die Rückfahrt. Sie liebt es offen zu fahren.

Einwegräder
„Das müsste man doch auch mit dem Rad machen können!“, denke ich mir, als ich den Wagen vor meiner Quinta parke. Naris trabt zielstrebig Richtung Thomas und ich folge ihr. Die Pferde stehen in der Sonne. Statt im Schatten Schutz vor der Hitze zu suchen, stellen sie sich in den Wind, um abzukühlen. Im Vorbeigehen biete ich ihnen eine Gartenschlauch-Dusche an, die sie sichtlich genießen. Auf meinem weiteren Weg zwischen Pferden und Thomas marschiere ich unter die Außendusche am Pool und gönne mir auch eine Abkühlung. Frisch und sauber komme ich an. Naris erstürmt seine Villa und mutiert alsbald vom schönen, freien und wilden Hund zu dem tapsig, unkoordiniertem Alleinunterhalter. Charly, ein Mitbringsel aus Deutschland, Rasse Colly, döst im Schatten auf der Terrasse. „Toomuch?“, rufe ich und beginne mit meiner Suche. Für die Namensgebung bin ich nicht verantwortlich – so klingt sein Name, wenn Portugiesen ihn aussprechen -  „Tooooomuch…“? – aber ich erhalte keine Antwort. Ich finde ihn im „Studio“ beim Schnitt eines Filmes. Keine unspannende Geschichte so ein Studio. Für kreative Köpfe und leidenschaftliche Fotografen ein wunderbarer Spielplatz. Schnell versinke ich dort, bis Toomuch aufbricht, um nach Lagos zu fahren. „Hey, ich wollte eigentlich nur fragen, ob du hier irgendwo ein Fahrrad rumstehen hast.“, ließ ich ihn wissen. Hat er nicht. Wir verlassen das Studio. Die Sonne steht jetzt tiefer und die Temperatur ist angenehm mild. Ich springe auf Chicco und reite bis zum Sonnenuntergang.
Am folgenden Mittag trifft eine Ladung Fahrräder ein. „Du hast mich auf die Idee gebracht. Jetzt kann ich meinen Kunden auch Räder anbieten.“ „Au ja, ich werde mal eins testfahren.“, schlage ich vor und betrachte misstrauisch, doch vorfreudig das Rudel Kaufhausräder. „Das wird toll, beschließe ich und brause keine Stunde später durch die Mittagssonne. Übermütig fliege ich in die Berge. „Nennen sich doch Mountainbikes die Dinger!“ Meine trainierten Beine und die Lust an der Bewegung, die Freude an der Hitze und dem kühlenden Fahrtwind – was für eine Kombination! Ich rausche euphorisch durch das Land. Die Luft ist von dem eigentümlichen Duft der Zistrose gesättigt. knick knack knick knack-. „Ich weiß nicht, was für ein Geräusch das ist, aber es gehört nicht dorthin!“ denke ich, während ich das intensive Aroma dieser Landschaft inhaliere. Ich genieße die warme, weiche Luft auf meiner Haut. Der nächste Tritt geht ins Leere. 
Mit einer Tretkurbel in der einen und einem fahruntüchtigen Fahrrad in der anderen Hand jogge ich Kilometer für Kilometer zurück. „Wir haben ja noch welche.“, kommentiert Thomas das defekte Rad am Abend. „Einwegräder“, schimpfe ich. „Wegwerfgesellschaft!“
Strandtraining
Trotzdem fand ich ihn am folgenden Mittag mit Werkzeug bewaffnet knieend vor dem kopfüberstehenden Rad auf seiner Terrasse, als ich mit dem Pferd dort vorbei ritt. Bert stand am frühen Morgen mit Galita plötzlich neben mir, als ich die Pferde tränkte und nach dem Rechten sah. Ich begleitete ihn nach Hause, damit ich weiß, wo ich ihn finden kann. Seine Quinta sieht mehr nach einem Gewächs, als nach einem Gebäude aus. Man sieht, wie sie über die Jahre gewachsen ist. Hier ein Ableger, dort ein Seitentrieb und zahlreiche Kindel, wie die Floristik es nennt. Wie ein Labyrinth schlängelt sie sich über die Erde, mit ihren Verwachsungen. Ob sie deshalb „Cobra Verde“ heißt? Es ist ein entückendes Gewächs, das Bert, seines Zeichens professioneller Musiker, wie eine Blüte schmückt. Kurz, es ist stimmig. Ein Leben am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt. Es strömt Zufriedenheit und Schönheit aus, wie alles Authentische, Echte, Stimmige. Bevor ich ihn wieder verlasse, lädt er mich zu einem „privaten Konzert“ ein, ganz allein für mich. Ich freue mich auf diese und alle weiteren Begegnungen mit ihm. Lächelnd, so meine ich, erreiche ich unser Terrain und reite auf dem Rückweg bei Thomas vor die Terrasse. „Warum grinst du so?“, quittiert er mein seeliges Lächeln und erhebt sich aus der Hocke. „Ich repariere das Fahrrad.“

Aliens und Indians
Die Begegnungen mit Bert gehören zu meinem portugisischem Leben. Viele Meilen und Stunden ritten wir schon Seite an Seite durch das Land. Das Bild seiner langen, zuppeligen Haare, die unter dem Lederschlapphut hervorlugen, Galita, seine Lusitano-Stute, mit der er ein ebenso stimmiges Bild abgibt, wie mit seiner Quinta, seine Ideale und seine Begeisterung für das Leben schmücken mein Leben genauso, wie er offenbar alles um sich herum schmückt. „Unsere Freundschaft wächst, wie seine Quinta gewachsen ist!“, schießt es mir eines schönen Nachmittages durch den Kopf, während eines gemeinsamen Rittes. 

Meia Praia
 „Was meinst du – wollen wir zum Strand reiten?“, will er wissen, als er am Morgen mit Galita bei mir auftaucht. Ich springe auf den nackten Pferderücken und wir traben los. Ahnungslos reite ich mit ihm quer durch das Land, Stunde um Stunde, ohne mich zu fragen, zu welchem(!) Strand er eigentlich will. Auf vielen Kilometern Umweg , genießen wir dankbar, was wir haben und machen und erreichen eine Anhöhe, die den Blick auf Lagos freigibt. „Lagos sieht schön aus von hier oben!“, staune ich. Ich habe gefühlte Jahrhunderte keinen Ort mehr gesehen. Im Vergleich mit Lissabon und seinen 681.100 Einwohnern, oder Porto (309500 EW) mutet Lagos jedoch eher wie ein Dörfchen an, mit gerade knapp 30.000 Einwohnern. Die gesamte Algarve bevölkern ja gerade mal 441000 Einwohner. Und fast alle findet man am Küstenstreifen. Die Straße entlang der Küste trennt diesen Teil auffällig, vom Landesinneren, dem spärlichst besiedelten. Wir reiten hinunter, ein Stück über die Hauptstraße, folgen wir der palmengeschmückten Promenade, vorbei an der Marina. Fancy scheint ihren Augen auch nicht glauben zu wollen! Doch bevor sie missmutig werden kann, biegen wir ab auf Lagos größten Strand, Meia Praia. Hier ist Algarve pur. Im Sommer tummeln sich auf diesem vier Kilometer messenden Strand die sonnenfreudigen Touristen! Augenblicklich sind es Möwen, die sich hier tummeln und sich schimpfend in einer Wolke erheben, als wir mit unseren Pferden zu einer langen Strandgaloppade ansetzen. Meine Kleidung klebt auf dem verschwitzten Pferdefell und ich habe das Gefühl, mit Fancy eine Verwachsung einzugehen, nach all den Stunden. Ich seufze laut, während ich von ihrem Rücken rutsche, erleichtert darüber, dass das überhaupt noch funktioniert. Die Rast in den Dünen halten wir kurz, für eine spontanes kurzes ‚Zum Strand begleiten’, ist der Tag bereits weit fortgeschritten. „Wie zufrieden kann man eigentlich sein?“, denke ich auf unserem Rückritt. Als Antwort fange ich ein Lächeln von Bert ein, das wahrlich auch als breites Grinsen durchgehen könnte.  „Fühlt sich ganz schön abgehoben an“, attestiere ich mir meinen Zustand, während wir schweigend nebeneinander wieder ins Landesinnere ziehen. Am Horizont nehmen wir eine Person wahr, die einzige, der wir auf unserem heutigen Ritt begegnen. Sie geht zu Fuß und langsam steuern wir aufeinander zu. Es beansprucht einige Zeit, bis unsere Wege sich kreuzen, doch bleibt sie stehen und staunt uns an, mit wirklich entgleisenden Gesichtszügen und herunterklappender Kinnlade, als kämen wir aus dem Nichts -?- Still ziehen wir an ihr vorbei.  „Sie hat uns angesehen, als seien wir Aliens!?!“ , bemerkt Bert in die Stille. Ich zucke bei meiner Antwort mit den Schultern: "Vielleicht sind wir es.“  „ I am an Indian, not an Alien!“, ist Berts Antwort darauf, als wir uns an diesem Tag trennen. Irgendwie glaube ich ihm, als ich den beiden hinterher sehe, wie sie dahintraben durchs Land, Galita mit wehender Mähne und Bert mit der Feder am Hut. 

Besuch
„Hey Sunny, ganz schnell nur – wir kommen morgen!“  Verdutzt schaue ich den Höhrer an, ungläubig, dass da wirklich gerade rauskam, was ich hörte. „Annika? Um wieviel Uhr kommt ihr an?“, frage ich noch, dann muss ich mich ausschütteln vor Lachen.  Annika und Tina machen ihr Versprechen wahr und kommen mich hier besuchen. Jippieh! Mein Traumhäuschen wird zur WG.
„uuuuu – Hast du ein Auto geklaut?“, staunt Annika, als ich mit den beiden über den Flughafenparkplatz laufe und auf den Geländewagen von Thomas zusteuere. „pffff, das ist ne Bonzen-Kiste!“, erfahre ich von Tina, die ihrer Bemerkung kopfkratzend Nachdruck verleit. Ich habe aber auch so überhaupt gar kein Verhältnis zu Autos und nicht mal die Idee solch eines Gedankens flog mich an. Wirklich nicht. Über die teuren Pferde habe ich nachgedacht. Und die Villen. Der Mercedes-Oldtimer, ja, da habe ich über den Stil nachgedacht: „Braun –  das steht ihm!“ Aber das wars. Autos? Fehlanzeige, fallen nicht in eine Wertbemessung bei mir. Einzig der Autopilot und die Klimaanlage haben kurz meine Aufmerksamkeit erregt, solange, bis ich beides ausgeschaltet hatte. Ich fahre lieber mit geöffnetem Fenster und Gas geben muss auch niemand für mich. Und überhaupt – ich lebe OHNE Auto, komplett unmotorisiert und zwar gewollt und gezielt. Also, ein Paar geliebte Laufschuhe, die mich von A nach B bringen, stellen in meinem Leben einen größeren Wert dar. Hier in Portugal sind die Fahrten Ausnahmen und gehören nicht in meine tägliche Lebensführung. Mein Leben sollte bald noch ursprünglicher werden, weg von Villa und Cabrio, noch näher an der Natur, nein, mitten drin in der Natur, ohne Motor, ohne Auto. Als ich Annika und Tina am Flughafen Faro abfing, wusste ich noch nichts davon.
 „Palmen, Sonne, Süüüüüden!!!“,  Tina umjubelt die Palmen am Flughafengelände und reißt sich ihr dünnes Jäckchen vom Leib.  Annika hüpft ebenfalls im Shirt herum. Ich trage meine dickste Jacke.  „Ihr tut ja, als hätten wir Sommer?“, staune ich nicht schlecht. Immerhin, es ist Januar! Es dauert noch einige Zeit und weitere Besuche, bis ich kapiere, dass ich bereits aklimatisiert bin. Schaut man sich am Flughafen um, ist es ein gängiges Bild: die Gäste sind leicht bekleidet, die, die sie abholen nicht. Nun, nicht umsonst spricht man in Südportugal von mediterranem Klima. Im Winter werden wir hier mit sehr vielen Sonnenstunden verwöhnt. "Ich habe mir sagen lassen, wir seien das Land mit den meisten winterlichen Sonnenstunden Europas.", quittiere ich mit einer ausladenden Bewegung Richtung Palmen, blauem Himmel und strahlender Sonne Tinas Freudentanz. "Juchuuuu!", jubelt sie weiter und dreht sich glücklich mit ausgebreiteten Armen im Kreis. "Gewitter habe ich hier noch nicht erlebt", präsentiere ich weiter das portugiesische Wetter. "Drückende Hitze, die sogar die Pferde in die Knie zwingt, wie im schlechten Deutschen Sommer, brauchen wir nicht zu fürchten!", strahle ich glücklich mit den beiden und freue mich, mit ihnen reiten zu gehen. Annika ist die Pranktikantin des Hofes aus Deutschland, die zur Zeit meine Bude bewohnt und Tina eine Freundin von uns.
Wir starten an diesem Tag in eine tolle Zeit und ich konnte Portugal sogar aus der Besucher-Sicht kennenlernen. 

Sehenswürdig
Ein typisches Phänomen der Zuwanderer ist, dass man, wenn man Besuch bekommt, Ecken aufsucht, an denen man sonst nicht anhält. Dinge, die halt eben einfach da sind und das Bild bestimmen, die man zu schätzen weiß, aber an denen man immer wieder vorbeifährt. "In Deutschland halten wir ja auch nicht an jeder Kirche an, um sie zu bestaunen.", erkläre ich mir bis dahin meine Ignoranz. Sie sind im täglichen Bild und wir fahren dran vorbei. Touristen hingegen steuern diese Punkte an. Berechtigterweise, weiß ich seit dem Besuch der beiden.

Lagos
Klar, dass wir auch das nahe gelegene Lagos eroberten.  Eis schleckend streifen wir durch die Altstadt mit ihren schnuckeligen Gassen, die steil zur palmenbestückten Promenade hinabführen. Lagos im Januar ist nicht das Lagos, das man im Sommer besucht. Es ist gemütlich, ruhig, entspannt und trotzdem fröhlich und ganz und gar nicht mit Menschen überfüllt. „Im Sommer sind dreimal so viele Menschen in der Algarve!“, kommentierte Thomas unsere Berichterstattung. Die bunten Häuserfassaden tragen zu dem sonnig-freundlichen Charme bei, genauso wie die Straßenmusiker, Pantomimen und Künstler, auf dem Platz vor dem ehemaligem Sklavenmarkt.  Die Marina unterstreicht das Flair einer Hafenstadt. Ohne meinen Besuch wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dort entlang zu schlendern. „Ich flaniere für gewöhnlich nicht,“ begründe ich das auf Nachfrage. Wir genießen die Atmosphäre dort und fangen alles mit der Kamera ein. Ein Segen ist es, das Zeitalter der digitalen Fotografie. Welches noch kommen sollte.  Aber Lagos ist immer einen Besuch wert und wir nutzten das Bilder-Abholen für einen weiteren Besuch: Nachdem wir durch das Stadttor tretend, das Fort Ponta da Bandeira besuchten, schlürfen wir im Ort ein Milchshake unter Palmen. „Verdammt laut, eure Palmen.“ Tina krazt sich nachdenklich am Kopf und schielt nach oben in die Palmwedel, in denen unzählige Spatzen lautstark lärmen.
„Yiiiieeehaaaa!“ Wir stürmen über die Dünen Richtung Meer, schmeißen die Schuhe in weitem Bogen von uns und springen quietschvergnügt ins Wasser. Meia Praia, der Hauptstrand von Lagos ist menschenleer. Ich genieße das regelmäßig für Trainingsläufe im Sand. Dieser Strand hier bietet sich mit 4km Länge gut an. Zweimal hin und her im Schwellentempo gelaufen, mit dem Rad an – und abreisend, wurde es mir zu einer beliebten Trainings-Einheit, zwischen den vielen Klippen-und Buchten, oder Inlandläufen. 
Meia Praia, mein Strandlauf-Trainings-Revier

Ungeachtet unseres Strandglückes dort, steuern wir auch noch andere an und vertreiben uns in wahrer Urlaubsstimmung die Zeit. Praia Dona Ana und do Estudantes sind kleine, schnuckelige Strände, die zwischen Felsenklippen liegen. Vom langen Tag und der vielen Sonne erschöpft, lassen wir von der Stimmung an der Praia Dona Ana einlullen. Den warmen Sand unter dem Rücken, das Rauschen des Meeres zu Füßen und den Blick in den Himmel gerichtet, liegen wir nebeneinander gereiht vor einer Klippe und dösen Unfug redend vor uns hin.
An der Ponta da Piedade verbringen wir einen weiteren Vormittag, nachdem wir erneut Filme zum Entwickeln nach Lagos brachten. Es ist sicherlich ein Touristen-Magnet, aber wir waren auch hier drei einsame Besucher, die die bizarren Formen der Felsbuchten und den klasse Blick auf Lagos genossen.



Monchique
So wurde mein erster Besuch aus Deutschland für mich zu einer Sight-Seeing-Tour.  Das Monchique-Gebirge bestaunte ich allerdings bereits im Vorfeld: Eines heißen Sommernachmittags flüchtete ich, getrieben von der Sehnsucht nach etwas Abkühlung, dorthin. „Bildbandland“, denke ich mal wieder, als ich die Gegend der Südküste um Lagos  verlasse und in immer dichter, grüner und bunter werdende Vegetation eintauche. „Unglauuuublich!“, staune ich und beschließe, beim nächsten Mal hier zu laufen. „Die Luft riecht anders“, stelle ich fest, während ich das Cabrio die nicht enden wollende Straße hinauf auf 485 Meter Höhe nach Monchique steuere.  Zuverlässig bläst hier der erfrischender Wind und bietet die ersehnte Abkühlung. „Im Dschungel“, antworte ich knapp, als Bert mich fragt, wo wir waren und ich erfahre von ihm, dass dort rund tausend Pflanzenarten beheimatet sind.

Cabo de Sao Vicente
Abkühlung fanden wir drei auch am südwestlichste Punkt Europas. Es ist eine Landspitze, die über dem Wasser thront. Bisher sah ich mich nie veranlasst, diesen beeindruckenden Punkt aufzusuchen. Jetzt kann ich es nur empfehlen! Am besten außerhalb der Saison, dann steigen die Chancen, die Stimmung, die der Ort ausstrahlt, ganz und ohne Ablenkung aufzusaugen.  Das krachende Blau des Himmels versteckt sich bei unserem Besuch hinter einem tiefhängendem Grau. Wir reden kaum und jeder geht,  gefesselt und beanstprucht von der Stimmung, seines Weges über die Anlage. „Es ist nicht nur der südwestlichste Punkt Europas“, stelle ich fest, „Es ist wohl auch der windigste!“ Der Blick über die Mauern, hinunter ins Meer, lässt wilde, rauhe Seefahrergeschichten vor dem geistigen Auge erscheinen.  Ich mache mich klug nach dem Besuch dort und erfahre, dass sich rund zwei Millionen Besucher pro Jahr hier tummeln. „Uff! Wenn das Heinrich der Seefahrer gewusst hätte….!“, pruste ich spontan heraus. „Welch ein Privileg es so verwunschen und einsam gesehen zu haben“, freue ich mich und sehe mich in meinem Tun bestätigt, dass Urlaub machen, oder dort leben den entscheidenden Unterschied ausmacht. EinLand erleben ist nicht ein Land besuchen!
„Sieh mal“, Tina zupft mich am Ärmel mitzukommen. Einige Meter entfernt, krabbelt ein Skorpion über das feuchte Gestein. „Himmel, ist das ein Albino?“, frage ich überrascht.  „Sind Skorpione nicht normalerweise schwarz?“, fragt Tina und lässt ihr typisches am Kopf-Kratzen folgen. „Oder rot?“, fällt mir da noch ein. Aber dieses Exemplar sieht aus wie ein Fabelwesen – weißlich, hell! Wir ließen ihn an Ort und Stelle. Wenn irgendwo ein Fabelwesen hinpasst, dann hier. Anders entschieden sich Annika und Tina, als sie einen Gecko in der Dusche finden….

Gecko-Baby
 …“Sunny, komm mal gucken!“, empfängt mich Annika, als ich vom Lauftraining komme und auf der Terrasse unserer temporären südländischen WG erscheine. Tina tanzt dort mit Naris Walzer, lässt von ihr ab und kommt berichtend auf mich zu: „Wir haben einem Baby-Gecko ein Außenterrarium gebaut!“  Wir gehen an den Rand der Terrasse und stolz präsentieren mir die beiden einen Gecko-Winzling, nicht größer als ein Cent-Stück, inmitten einer Landschaft, inklusive Badeteich. Kurioserweise befand sich diese Landschaft in einer Pappschachtel, welche wiederum in der Landschaft stand. "Wie kreativ!, staune ich mit einem Hauch Ironie. "Eine Landschaft in einer Landschaft!" „Ich habe ihn in der Dusche gefunden“, erklärt Annika. „Ist der kleiiiiin“, staune ich über den Däumling dort. Geckos leben hier in rauhen Mengen. Ich mag diese kleien Gesellen und ahnte ja nicht, wie nah ich bald mit ihnen leben werden. „Feet them!“, mahnte ich Toomuch, als wir der Einladung zu  einem Gartenfest bei Jan folgen und er beim Verlassen seiner Villa das Außenlicht löscht. Die Geckos machen es wie die Grizzlys beim Lachslaich. Sie platzieren sich dort, wo die Nahrungsquelle auftaucht. Am Licht. Sie warten, bis die Motten herumschwirren, um dann einfach nur noch zuzuschlagen. Gecko-Schlaraffenland. Aber wovon will denn unser kleiner Zwerg hier leben, fragen wir uns? Kann er denn etwa schon Insekten fangen? Wir wissen nichts, stellen wir fest, lagern ihn aber vorsichtshalber unter der Terrassenlampe, die wir nachts anlassen. Sein Schicksal wird uns für immer verborgen bleiben. Die Kiste war beim nächsten Kontrollgang leer.

Prozessionsraupen
Weniger reizvoll fanden wir die vielen Raupen, die in dicken Beuteln in den Bäumen hängen, um diese zu gegebener Zeit zu verlassen. Schön sehen sie ja aus, aber die Menge machts. „Müssen die denn alle gleichzeitig die Welt kennen lernen?“, frage ich in die Runde, während wir die Invasion bestaunen, die in einer langen Reihe an einem der weißen Löwen-Plastiken  hochkriechen, die den Eingang zu meiner Terrasse zieren. Zieren sollen. „Sie sind gifig.“, warne  ich, als Tina sich am Kopf kratzend die Raupen vom Nahen betrachtet. „Sie sollen wohl ätzen und fiese Verletzungen auf der Haut hinterlassen, wenn man sie berührt.“  „Yiiii“, Tina rümpft die Nase und geht einen Schritt zurück. Die Flügeltüren zum Haus stehen wie immer weit offen. „So!“, lässt Annika bestimmt verlauten, als sie die Türen schließt. „Problem gelöst!“, kontere ich. Dass wir uns damit ein anderes Problem eingefangen haben, wussten wir nicht und brachen bald nach Carrapateira auf. Henrique und Deborah haben uns eingeladen und ich möchte Tina und Annika den Punkt in Portugal zeigen, den ich auch ohne die Funktion eines Touristen-Führers immer wieder ansteuere. „Carrrrrapateira“, lasse ich sehnsuchtsvoll verlauten und rolle klangvoll das R. 

Carrapateira
„Der schönste Flecken Erde auf dieser Welt!“, setzte ich nach.  Das Wilde und Rauhe der Westküste nimmt uns schon auf der Fahrt dorthin gefangen, obwohl wir, entgegen meiner Gewohnheit, nicht über die Berge von der Südküste zur Westküste laufen, sondern über die Straßen das Paradies dort ansteuern. Der kleine Fischerort an der Westalgarve liegt im Naturschutzgebiet, zwischen endlosen Stränden, überwältigenden Dünenlandschaften und Steilküsten inmitten unberührter Natur.  Streift man über die Klippen sind die Fischerhäuschen, die dort vereinzelt stehen, das einzige Indiz für menschliche Existenz. Sie haben ungefähr die Maße eines Klohäuschens und dienen lediglich der Aufbewahrung von Angelmaterial. „Fischen die von hier oben?“, will Annika wissen. „Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.“, antworte ich, mit Blick an den felsigen, schroffen Klippen hinunter. Das kleine Gestüt liegt versteckt, etwas weiter ins Landesinnere hinein. Eine sandig-staubige „Straße“ führt durch ein schmales Tal, das von hügeligen, grün bewachsenen Bergen gesäumt ist. „Der Blick von dort oben auf die Küste ist hypnotisch.“, berichte ich enthusiastisch. 
Wir rollen auf den Hof, der wie in einem Kessel, umgeben von Korkeichenwäldern, eingebettet dort liegt. Im vorderen Bereich erstrecket sich weitläufiges Weideland, in sattem Grün. Ein ungewöhnlicher Anblick, hier im Süden Portugals. „Ein Trauuuum!“ Annika und Tina sind bereits infiziert. „Wartet es ab!“ Ich weiß, was sich hinter der Kurve versteckt… Auf einer kleinen Anhöhe liegt weiß leuchtend die Quinta. Zu ihren Füßen mein zukünftiger Arbeitsbereich: ein Reitplatz, ein Pferdewaschplatz, eine große Außentränke und die Stallungen. Integriert im vorderen Bereich ein kleines Büro auf der einen und eine offene Bar an der anderen Seite. Die Bar irritierte mich zunächst, aber später, als ich hier leben sollte, stellte sich heraus, dass sie ein Segen ist, mit den Getränken an Bord. So ein Morgen, Pferd nach Pferd trainierend, von der Morgensonne in die Mittagshitze hinein macht durstig. Ich gewöhnte mir ausßerdem an, die Anlage einzuschalten und das Radio laufen zu lassen. „Kann ja nicht schaden – für meine Portugiesisch-Kenntnisse.“, erzähle ich Henrique im Englisch-Portugiesisch-Mix. Annika reckt den Hals und betrachtet die Trophähen, Schleifen und Pokale, die in der Bar an der Wand und oben auf Regalen gesammelt wurden. Später habe ich meine Pokale, die ich nach Hause brachte, dort eingereiht. „Der Stall ist schöner, als ich ihn mit all meiner Phantasie kreieren könnte.“, denke ich ergriffen, als ich mit den beiden hindurch schlendere. Am hinteren Ende treten wir wieder ins Freie. Linkerhand ergießt sich das begrünte Weideland, rechts steigen die Berge auf, vor uns liegt ein Korkeichenwald. „Es tut weh, so schön ist das.“, seufze ich. Wenn ich gewusst hätte, dass genau dort, wo wir stehen, bald meine Bleibe erbaut werden würde…! Baily, einer der vier Hunde, die hier gemeinsam mit Deborah, Henrique und den Pferden leben, ein Charakterkopf, ein Lümmel, ein kleiner Lump, ein frecher, nein, gewiefter kleiner Gauner – dem Leser wird nicht entgangen sein, dass ich ihn lieben lernte – tobt um uns herum und beansprucht unsere Aufmerksamkeit. Später werde ich bei meiner Berichterstattung für Deutschland erzählen, dass er Antonio mit "Beinchen heben" an seiner Dienstkleidung zu begrüßen pflegt...

Terrasse vor meinem Caravan in Carrapateira - so wie sie mir am liebsten ist: mit Baily und Oldy

Antik und neu
„Neee, oder!?!“ Annika steht staunend über meiner Bettes-Statt, die ich mir in meinem Häuschen eingerichtet habe. Schon über die Hanteln, die ich nach dem Training an der Terrasse liegen gelassen habe, schmunzelte sie. Nun, sie wohnt immerhin in meinem deutschen Domizil und kennt sowohl meinen Trainingsraum, als auch die Hanteln, die mal hier – mal dort liegen. Aber als sie dem Anblick meines Schlaflagers hier gewahr wurde, grinst sie breit über ihr ganzes Gesicht. Sie erkennt gerade meine Note des Einrichtens wieder, das meist als stivoll ungewöhnlich betitelt wird.
Thomas hat seine Quintas mit Antiquitäten bestückt, die er via Container und Frachtschiff nach Portugal schiffen ließ. Die Container hat er auch gleich behalten – einen räumte er leer und bestückte seine Häuser. Sinnigerweise hat er diesen leeren am Pferde-Domizil platziert, dessen Längsseite den Pferden als Schattenspender dient. Den Innenteil funktionierte er im hinteren Bereich zum Futterlager um. In den vorderen Teil bastelte er eine Sattelkammer. Es riecht herrlich, wenn man eintritt. Ich liebe den Duft von Heu, Hafer und Futter-Pallets, in den sich das Aroma vom Leder mischt. 

Der zweite Container lagert noch weitere Antiquitäten und Habseligkeiten ein und steht im Hinterland, im Bereich seiner Villa. Einmal habe ich ihn überrascht, während er dort kramte und nach irgendwelchen Dingen suchte. Die Stimmung war ganz eigen. Bis zur Decke gestapelt waren die Möbel. Schöne Möbel. Alte Möbel. Möbelstücke aus seinem bisherigem Leben. Es war, als haftete an ihnen noch die Geschichten, die die Menschen um sie herum erlebten. „Sie können einem fast leid tun!“, murmel ich, als ich staunend das Möbellager betrachte. „So zusammengepfercht.“  „Und ohne Licht und Leben.“, kontert Thomas und zog eine Mappe aus einer Kiste. Er präsentierte mir Zeichnungen verschiedenster Art und Technik, die er im Laufe seines Lebens angefertigt hatte. Ich fragte danach, als wir über meine Kritzeleien in meinen Büchern sprachen, die er als ‚künstlerisch äußerst begabt’ kommentierte. Nun reicht er mir eins nach dem anderen seiner Werke und meine Beklommenheit gewinnt an Kraft. „Das ist ja richtig gut.“, komplimentiere ich, während ich die kreativen Produkte aus seinem Leben in meinen Händen halte. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass hier ein Mensch steht, der alles aus seinem Leben zurück gelassen hat – bis auf zwei vollgestopfte Container, ein paar Pferden und seinem Hund. Nachdem ich wieder ins Freie trat, sah ich fortan einen anderen Thomas. Die Villen und ihre Möbel, mein Häuschen, in dem ich lebe, das antike Sofa, das ich nicht benötige, die Schlafzimmereinrichtung, die ich überflüssig fand, alles! Mein Haus wartet sogar mit zwei Schlafzimmern auf, die ich nicht in ihrer angedachten Funktion nutze. Das ist, was Annika mit ihrem „Neee, oder!?!“ kommentiert. 




Schlafkoje
Verstohlen schielt sie hinter den Schrank des sonnendurchfluteten Schlafzimmers, das ich mir als "Aufwach-Stelle" ausgesucht hatte. Ich liebe es, bereits beim Auftauchen aus dem Schlaf, von Licht und Sonne in den Tag geleitet zu werden. "Was soll ich mir Wände ansehen, sobald ich die Augen öffne?", habe ich mich gefragt, als ich das zweite, dunkle und sicher auch kühlere Schlafzimmer mit einem Achselzucken aussortierte. Zum Schlafen habe ich mir in dem hellen Raum eine Koje gebaut, indem ich den Schrank von der Wand in den Raum zog und als Trennwand nutzte. Dahinter entstand eine kuschelige Nische, in die ich eine Futon-Matte legte. Eine kleine Lampe sorgte neben dem Schlafplatz auf einem improvisierten Nachttisch für heimeliges Licht."Für die abendlichen Lese-Einschlaf-Stunden", kommentiere ich Annikas Blick darauf. Eine Bild-Kollage an der Wand mit Fotos aus Deutschland erinnert mich an die weitläufigen Wälder, satten Wiesen und Felder, an meine Freunde und mein Pferd, das ich zurück gelassen hatte. Ich bin mir nicht sicher, woher ich das Bedürfnis habe, Schlaf-Kojen zu bauen - möglicherweise liegt es daran, dass ich einen Teil meiner Kindheit auf einem Schiff verbrachte, an dessen Koje, in der ich schlief, ich mich als mein erstes eigenes Domizil erinnere. Kann sein, dass mich diese Prägung jahrelang immer wieder dazu trieb, mich zum Schlafen in Nischen, Ecken und Winkel zu verkriechen. Widersätzlicherweise empfinde ich Zelte hingegen als unzumutbares Einsperren, oder besser gesagt, als Aussperren aus dem Eigentlichen, dem Draußen, der Natur, die ich so unsagbar schätze. Egal wo auf der Welt, bis heute widerstrebt es mir, mich in einem Zelt zu verstecken und die Außenwelt auszuschließen. In jedem Breitengrad, selbst in der Arktis, in die es mich Jahre später zog, schlief ich unter freiem Himmel. In diesem Fall unter der Mitternachtssonne. "Lebensqualität", seufze ich aus tiefstem Herzen, wenn ich erwache, meine Augen öffne und mein verschlafener Blick über die Weite des Landes und die Fjorde streift und an den gewaltigen Gletscherfronten haften bleibt. "So kann man aufwachen!", freue ich mich einen Morgen auf den anderen. Aber bis dahin soll noch ein Jahrzehnt vergehen und noch gebe ich meinem Kojenbautrieb nach und errichte meine kleinen Nester. Annika lächelt - sie erkennt meinen Akzent wieder. Meine deutsche Schlaf-Mulde ist ein Meisterwerk des Kojen-Baues - ich errichete dort ein regelrechtes Labyrinth aus Raumteilern, Schrank- und Regalelementen, vielen Stoffen und Vorhängen, mit schummrigen Lichtquellen hinter farbigen Stoffen, in dem Annika nun bereits seit zwei Monaten schläft.
"Ich bin, wie ich bin - egal, wo ich bin.", kommentiere ich ihre amüsierte Rührung.

Portugiesisches Winter-Phänomen
Nach unserem ereignisreichen Tag im sonnigen Carrapateira empfängt uns die Südküste mit einer tiefhängenden Wolkendecke. Müde verkriechen wir uns ins Haus. Selbst Pool und Außendusche wollen wir heute nur noch gegen Indoor-Duschen und Bett eintauschen. Erschöpft lassen wir uns nebeneinander auf das Sofa plumpsen. "Ääää!", Tina rümpft die Nase. "Was'n das so nass?!", fragt sie und streicht über den Wulst der Sofalehne. "Igitt, das klebt an den Beinen!", nörgele ich mit und springe auf. "Es trieft überall!", bemerke ich und öffne sämtliche Fenster, die wir vor unserem Aufbruch an die Westküste verriegelt hatten - in Sorge, die Raupeninvasion könnte ihre Prozession im Haus beenden. Kleine Rinnsale fließen an den Scheiben hinunter und bilden Pfützen am Ende ihrer Reise. "Bin duschen.", beschließe ich wortkarg und schlurfe träge Richtung Bad. Dort hängen feuchte Handtücher und ich habe das Gefühl, dass auch nach dem Abtrocknen auf der Haut ein nasser Film liegt. Bald darauf krieche krieche ich in ein klammes Bett und stehe angewidert wieder auf. "Ist es bei euch auch so nass?", will ich von den beiden wissen, als ich dort im Schlafzimmer trockene Bettwäsche aus dem Schrank holen möchte. "Mein Bett ist ein Wasserbett", erkläre ich. Annika schiebt sich gerade in südländischer Lethargie in das Bad, Tina kramt in ihrer Tasche. Ihr "Echt?" und der Probegriff auf das Bett kamen gleichzeitig mit meinem Griff in den Schrank. "Jau!", Tina rümpft erneut die Nase. "Und jetzt?" "Aussichtslos.", stelle ich resigniert fest. "Die ganze Bude ist nass. Sogar die Klamotten im Schrank!"
So lernte ich den Portugiesischen Winter von einer anderen, als der ewigen Sonnenseite kennen. "Heizen, Lüften, Heizen, Lüften", lautet die Order. "Heizen??", frage ich ernsthaft entrüstet nach. "Habe ich überhaupt eine Heizung?", will ich wissen und bekomme einen Gasofen an die Hand.


 
Müßiggang und Tatendrang
Dieses kleine Randphänomen des Portugiesischen Winters war jedoch schnell behoben und wir nahmen es gelassen hin, denn bereits der folgende Morgen strotzte wieder vor Sonne und Trockenheit. "Das beweist, dass grauer Himmel und feuchte Häuser Ausnahmen sind.", denke ich fröhlich beim Aufstehen und entschließe mich zu einem frühen Trainingslauf. Annika und Tina lasse ich schlafen und ich stehle mich leise nach draußen. Ein tiefer Atemzug und ein genussvoller Seufzer sind mein Startschuss. Heiter trabe ich los, nicht ohne Vorfreude auf den anschließenden erfrischenden Sprung in den Pool und das Frühstück. "Hach", seufze ich. Sommer, Laufen, Abkühlen, Frühstück auf der Terrasse und Urlaubsstimmung am Pool, bis der Müßiggang in Tatendrang umschlägt und wir auf die Pferde springen. "Ja, so soll es sein.", beschließe ich für den heutigen Sonnentag.Gelassen jogge ich am Pferdeauslauf vorbei und ändere schlagartig meinen Plan.... Verwirrt bleibe ich stehen, stemme die Hände in die Hüften und suche nach einer Antwort. "Wo sind sie?" Langsam rinnt die erste Schweißperle des Tages an meiner Schläfe hinab. Ich stiere auf das zerstörte Gatter. "Wach auf, Sunny!", mahne ich mich und bereue, dass ich ohne Koffein im Blut hier stehe. Mein Blick schweift über das Land. "Weg!", antworte ich mir knapp und nüchtern. Ich suche mit meinen müden Augen jede Himmelsrichtung ab. Champion, Fancy, Chicco und Cara waren auf Wanderschaft.

"Kommt ihr mit Pferde suchen?", lautet mein Weckruf für Tina und Annika. Annika lässt ihr bekanntes "Neee, oder!?" verlauten, Tina richtet sich auf und krazt sich am Kopf. Schön, dass wir so gelassen sind.

Wir schnappen uns Halfter und Stricke und schon ziehen drei Mädels ohne Koffein im Blut durch das Land. Mit müden, aber aufmerksamen Blicken. Auf der Suche nach einer kleinen Pferdeherde. Mir war vorher nicht bewusst, dass Mandel- und Olivenbäume, Steinhaufen und Kakteenhecken wie Pferde aussehen können. Aber sie können es. Ohne Kaffee geht das erst recht. Auch machen sie den Eindruck, dass sie stetig von einem fortwandern, hat man sie einmal ins Visier genommen.


Freiheit
"Cara war hier wohl der Reiseführer!", rufe ich erfreut, als wir unsere Flüchtlinge finden.
Zufrieden dösen alle im Schatten einer kleinen Affenbrotbaum-Ansammlung vor sich hin. "Den Pferden scheint es gut zu gehen.", stellt Annika fest. "Die pennen.", lässt Tina folgen. "Nur Cara frißt wie ein Staubsauger.", seufze ich kopfschüttelnd, während wir die Pferde anhalftern.
Cara genießt als Pony ein besonderes Privileg: Sie darf bei unseren gemeinsamen Ritten frei mitlaufen. Ich betrachte das nie ganz ohne Argwohn, komme ich doch aus einer Szene, die geprägt ist von Sätteln, Zaumzeug und Plätzen, die überdacht und/oder umzäunt sind, auf denen sich Reiter und Pferd bewegen. Allenfalls aus einer Szene, die außerhalb dieser Einfriedungen bestimmt ist von Stacheldraht, Straßennetzen, Wanderwegen, Jagdrevieren, motorisierten Gefährten verschiedentlichster Art und anderen Dingen, die beiderseits eine potentielle Gefahr darstellen können. Die Reiter wissen wovon ich rede, wenn ich sage, dass ein aufgespannter Regenschirm, oder eine Mülltonne, die vorher nicht dort stand, eine tödliche Gefahr bergen könnte. Je nachdem, was für ein Gespann von Pferd und Reiter diesen Dingen begegnet. Ich selbst bewege mich, puristisch wie ich bin, nur am Rande dieser Szenerie, trage die Prägung aber trotzdem in mir. Das Vorausschauen und potentielle Gefahren-Erkennen ist bei mir schon zu einem Reflex herangewachsen, komplett automatisiert. Aus meinem Herzen und meiner Überzeugung jedoch bin ich ein Verfechter des "Je-weniger-desto-schöner" und lebe dies auch aus. Wenn ich mich mit meinem Pferd bewege, dann verzichte ich gänzlich auf  "Hilfsmittel" in Form von Riemen, Gurten, Strippen und Striemen. Die Hilfsmittel, derer ich, nein wir (mein Pferd ja auch) uns bedienen, sind Dinge wie Konsequenz, dem Wissen um 'pferdiges Verhalten', dem Kennen ihrer Sozialstruktur und ihrer Kommunikation, Glaubwürdigkeit und dem daraus gewonnenem Vertrauen. Aber nie und nimmer und aus oben angeschnittenen Gründen, würde ich ein - auch nicht mein - Pferd in Deutschland frei durch die Gegend laufen lassen.

Nun - jetzt bin ich im portugiesischem Inland. "Hier draußen in dem weiten Land ist das möglich.", versucht Thomas mich zu beruhigen. Ich selbst veranlasse und verantworte das trotzdem nie, aber Thomas ist da entspannter. So behält Cara also ihr Privileg und läuft frei bei unseren gemeinsamen Streifzügen mit. Der Herdentrieb machts möglich und sorgt dafür, dass wir sie nicht verlieren. Kreuzt unser Weg allerdings einen Affenbrotbaum, bleibt sie dort hängen und stopft sich mit den Früchten voll, die der Baum abgeworfen hat.
So auch jetzt, als wir uns auf unsere Entflohenen zusteuern. Mit vollen Backen und mahlendem Kiefer blickt sie nicht einmal auf, als wir auf der Bildfläche erscheinen."Kommt, lasst uns abhauen.", gebe ich den Startschuss für den Heimritt. "Sonst platzt sie noch." Ich wusste nicht, dass ich damit leider Recht behalten sollte. Fataler Weise platzte sie wirklich irgendwann - genaugenommen ihr Darm. Ich erfuhr von ihrem tragischen Tod, als ich bereits nach Carrapateira übergesiedelt war. Doch bevor ich an die Westküste zog, lebte ich einen weiteren Monat an der Südküste und mein Besuch kehrte ersteinmal zurück nach Deutschland.

Einen Monat später folgte ich ihnen, um meinen Umzug nach Portugal dingfest zu machen. "Ziehst Du mit Sack und Pack um?", will Gundu, eine Reiterfreundin, wissen. "Nein, mit Hantelbank und Rennrad.", lache ich."Und Pferd!", hänge ich dran. Dieser Umzug sollte bis heute der schrägste in meinem Leben werden. Die Capriolen, die kleinen Anekdoten und größeren Geschichtchen, die diese Umzugsreise schrieb, ahnte ich im Vorfeld nicht im Entferntesten. Es blieb bis heute mein buntester Ortswechsel. Und da wären einige zu benennen. Zum Beispiel der in die Arktis - mit Auto, Flugzeug, Zug und Postschiff.
Aber zunächst bin und bleibe ich im Süden und setzte Annika und Tina am Flughafen ab. "In  einem Monat bin ich bei euch.", verabschiede ich mich. 


Bezahltes Outdoor-Leben
In den folgenden Wochen besucht mich Antonio regelmäßig - privat und während seiner Dienst-Ritte. "Dein Job ist ein bezahltes Outdoorleben, was!?", lache ich, als er gegen Mittag aufbricht, um tiefer im Inland sein Mittagessen über dem offenen Feuer zu bereiten, wie er sagt. Das Gespann Antonio-Famoso ist mir zu einem vertrauten, immer wieder gern gesehenem Bild geworden. Famoso, das Pferd, das er reitet, ist ein Sorgenkind der Polizei-Reiterstaffel. Niemand kam so recht mit ihm klar und Famoso sollte ausgesondert werden. Die Polizei benötigt hundertprozentig verlässliche Pferde. Antonio übernahm "diesen Fall" und heute strahlen die beiden eine Harmonie aus, dass es jedesmal wirkliche Freude bereitet, sie zu beobachten. Meinen Proviant habe ich hier."  Antonio lacht mich von Famosos Rücken aus an und klopft mit der Hand zwei mal auf seine Satteltaschen. "Ist nicht wahr!?", zweifel ich und werfe einen prüfenden Blick hinein. "Ich brate das Fleisch über einer Feuerstelle.", erklärt er, als ich auf ein Päckchen in Alufolie deute. "Von wegen Polizei!", entschlüpft es mir. "Du bist ein Trapper in Polizeiuniform!" "Ich liebe es wirklich!", strahlt er und lenkt seinen Blick über das Land. Ein wenig finsterer wird sein Ausdruck, als er beginnt, mir von seiner Arbeit im Sommer zu erzählen. "Du stehst den ganzen Tag in der Hitze mit deinem Pferd am Strand. Meia Praia. Die Sonne grillt dich bei 35-45 Grad. Du schwitzt wie verrückt unter der Uniform und siehst den Touristen beim Baden zu!" "Ich kenne den Strand nur leer.", denke ich laut und versuche das Bild eines überfüllten Strandes, das da vor meinem geistigen Auge auftaucht, abzuschütteln. "Ihr Ärmsten!", bedauere ich die beiden. "Ich gönne euch eure Trapperzeit im Winter.", hake ich nach. "Na, na! Ein wenig arbeiten müssen wir auch außerhalb der Saison.", rückt Antonio die Tatsachen zurecht. "Im Stall und natürlich das tägliche Pferde-Training nicht zu vergessen. Außerdem reiten wir auch in und nicht nur um Lagos herum Patroullie"

Eines schönen Morgens hatte ich selbst die Ehre und das Vergnügen, mich auf Famosos Rücken zu schwingen. Allerdings erst nach einem bestandenem Spontant-Test meiner Sattelfestigkeit, wie mir scheint. An diesem Morgen ritt ich den Schimmel von Jan. Auf einen Sattel hatte ich verzichtet. Als ich zu Hause ankam, sah ich, dass Antonio dort auf mich wartete. Wir redeten über das Pferd - wem es gehöre, wo wir es gekauft hätten, solcherlei Dinge. Ahnungslos entspannt blieb ich auf Champion sitzen und ließ die Beine baumeln, während wir uns unterhielten. Gerade, als ich verträumt vor mich hin grinse, packt Antonio mich und versucht mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. "Ätsch!", lasse ich mit einer Siegesmine verlauten und prompt folgt bald darauf ein zweiter "Angriff". Obwohl ich ohne Sattel auf dem Pferderücken saß, tat ich ihm nicht den Gefallen, mich aus dem Gleichgerwicht bringen zu lassen und vom Pferd zu rutschen."
Am nächsten Morgen kam er mit einem Kollegen und übergab mir ohne große Geste seinen Famoso. Seinen besten Freund, wie er ihn nennt. Seinen Famoso, den niemand reitet. Nur er. Ehrlich, ich war gerührt von dieser Ehrerweisung und drehte mit Famoso eine kleine Runde in allen Gangarten. Ohne große Geste gab ich ihm seinen Freund wieder an die Hand. Wir verstanden auch so, was wir uns gerade gesagt haben.

"Im Ernst!", ereifere ich mich am Abend vor Bert. "Portugal ist doch ein Reiterland. Und Das Reiten ist fest in Männerhand, oder etwa nicht!?, frage ich, ohne eine Antwort abzuwarten. "Eine Frau gehört, wenn überhaupt aufs Pferd, dann auf den "Sozius.", setze ich nach. "Wer kennt sie nicht, diese Bilder: Ein vor Männlichkeit und Stolz strotzdender Portugiese auf einem ebenso männlichem, stolz daherschreitendem Hengst. Auf der Kruppe des edlen Tieres eine nicht minder edle Dame in Rausch und Rüschen. Das ist Portugal. Reiten ist hier Männersache und hat offenbar etwas mit Testesteron zu tun.", hänge ich als Resume hintan. Den Stierkampf, der hier vom Pferd aus stattfindet, erwähnte ich nicht. Ich sollte auch erst später, als ich im Alentejo, nahe der spanischen Grenze auf einem großen Gestüt arbeitete, Augenzeuge eines Stierkampfes zu Pferde werden.
"Sunny, du hast dich etabliert!"
Ich frage mich, wieviel Ernsthaftigkeit hinter Berts Aussage steht und erinnere mich an den Tag, als ich Antonio das erste mal begegnete. Eines Morgens, ich war am Pferdepaddock beschäftigt, stand er uniformiert in seiner Dienstkleidung neben mir. Er saß auf Famoso und betrachtete die Pferde im Paddock. "Nice horses.", lobte er ihr Erscheinungsbild. Dann wollte er wissen, wer sie denn reitet. Zunächst verstand ich die Frage nicht, denn ich schleppte gerade einen Sattel durch die Gegend, offensichtlich von einem Ritt kommend. Ich fragte mich, ob ich denn möglicherweise eine Straftat begangen haben könnte, der er jetzt auf den Grund gehen wollte. Wer weiß, welches Gesetz ich überschritten habe, so ohne Nummernschild (in Deutschland ist das wahrhaftig Vorschrift.) durch das Land reitend. "Ich!", antwortete ich. Unvergessen bleibt mir sein skeptisch-fragender Blick daraufhin. "Ein Mädel?", schien er sich zu fragen. "Macht die Scherze mit mir?!" Langsam, kaum sichtbar, nickte er. Sichtbarer war seine Skepsis. Das liegt nun relativ lange und einen Ritt auf Famosos Rücken zurück.


Orientierungsläufe von Coast to Coast
"Gibts ja nicht!", stelle ich entrüstet fest. "Renne ich denn im Kreis, oder wie, oder was???" Meine Füße dampfen - seit Stunden jogge ich quer durch die Berge und das Land. Gestartet bin ich in Carrapateira. Ich hatte dort ein paar schöne Tage verbracht. Carrapateira soll mein neuer Wirkungskreis und Lebensstandpunkt werden und ich reite dort bereits jetzt schon regelmäßig. So lebe ich mich ein, kann die Bedingungen im täglichen Ablauf kennen lernen und auch prüfen, ob dieses Domizil für mein Pferd, Oldy, geeignet ist. 
Die Trainingsläufe von der Westküste zur Südküste, Carrapateira-Lagos, haben den Charakter von Funsport, Abenteuer, Orientierungslauf, Ausdauertraining und Naturerlebnis. Ziel bleibt aber lediglich, mich von A nach B zu bringen - vergleichbar mit meinen Läufen in Deutschland von zu Hause zum Stall und zurück. Mein Sport hat bei mir seit jeher was mit Lebensform zu tun. Unmotorisiert und trotzdem mobil. Mittels Körperkraft, nahe und in der Natur. Und zwar nicht als Wochenend-Hobby, sondern täglich. Ich lebe es. Diese Lebensform transportierte ich nicht nur nach Portugal, sondern in jeden Winkel dieser Erde, in dem ich mich aufhielt. Nie habe ich sie angezweifelt, auch nicht in solchen Momenten, wie jetzt: Die Sonne brütet gnadenlos. Ich genehmige mir meinen letzten Schluck Wasser aus der Radflasche. "Das wars.", stelle ich fest. "Jetzt wird es Zeit, dass du Land gewinnst, Sunny!", ermahne ich mich selbst. "Denk nach - von dort bist du gerade gekommen, da hinten bin ich doch gerade schon rausgekommen und dort bin ich zueletzt entlang gelaufen. Also was bleibt???" Ich war gänzlich ratlos und meine Trinkvorräte aufgebraucht. "Jetzt nur nicht nervös werden.", beschließe ich und stolpere bald darauf über den Pfeil aus Eukalyptusästen, den ich mir als Markierung auf den Boden gelegt hatte. Hier in den Bergen gibt es keinerlei Besiedlung - der Mensch scheint sich hier ausschließlich an der Küste nieder gelassen zu haben - und die Zeit von GPS an Sportuhren sollte erst eine Dekade später eingeläutet werden. "Ich komme zu spät.", wird mir klar, "Aber Antonio wird sich bei den Pferden, auf meiner Terrasse, oder am Pool die Zeit verkürzen.", überlege ich und freue mich, dass ich Recht behalten habe, als ich mein Ziel erreiche. Ich jogge über die letzte Anhöhe und sehe von dort seinen Wagen vor meinem Haus.


"Wo kommst du denn her?" Antonio lehnt entspannt am Gatter und beobachtet die Pferde. "Aus Carrapateira.", schnaufe ich und schlüpfe aus meinen Sportschuhen. "Jetzt?", staunt er ungläubig. "Jetzt.", bestätige ich. "Ich bin gelaufen.", lasse ich ihn wissen, während ich uns aus dem Haus etwas zu trinken hole. "A Pé? You walked?", hakt er nochmal nach, sich wohl fragend, ob man diese Strecke freiwillig gehen kann. "No.", stoße ich kanpp raus, als ich die Flasche Wasser absetzte. "Ich bin gelaufen, gejoggt!", korrigiere ich, bevor ich zum nächsten Schluck ansetze. Mit einem "Aaaaaah!", setze ich die Flasche ab und fange Antonios Blick auf. Unbewegt stiert er mir tief in die Pupille. Hinter seiner Stirn scheint es zu arbeiten. "Uuuund", beginnt er langgezogen, "woher kennst du die Strecke?" "Kenne ich nicht!", lache ich laut heraus, angesichts meiner heutigen Verwirrung und Verirrung in den Bergen. "Warte!", sage ich, als ich erneut seinem ungläubigen Blick begegne und hole aus dem Haus das Stück einer zerfetzten topographischen Karte, das ich bei meinem ersten dieser Läufe mit mir führte. "Eine große Hilfe war sie nicht, aber bei der groben Orientierung hat sie gute Dienste geleistet."  "Hier durch das trockene Flußbett, dort über den Bergkamm..." Ich beschreibe meine Strecke mehr oder weniger exakt, mit dem Finger über die Karte gleitend. "Hier, nein, dort, oder - Augenblick, da muss es gewesen sein. Oder?" Lachend winke ich ab und beschreibe mein heutiges Lauferlebnis. "Ist doch ganz einfach: Von Küste zu Küste. Irgendwie hier so übers Eck." Ich lache über mich selbst und schiebe die Karte weit von mir über den Tisch. "Lust in den Pool zu springen?", wechsel ich das Thema und freue mich darauf, Staub und Schweiß des Tages los zu werden.


Ein Fluß ist ein Fluß?
Schon am nächsten Morgen ritt Antonio während des Dienstes bei mir vorbei und zog Karten-Material aus den Satteltaschen. "Hier, du wirst dich nicht mehr verlaufen." "Hui!", staune ich. "Bei diesem Maßstab sieht man ja jeden einzelnen Olivenbaum!" "Jede einzelne Olive!", verbessert er mich ernst und überreicht die Karten feierlich. Dankbar nehme ich das Geschenk an mich. "Wir benutzen sie für unseren Dienst.", lässt er mich wissen. "Ja klar!", schießt es aus mir heraus. "Hast du die Feuerstellen für deine Mittagspausen auch eingezeichnet?"
Fortan fühlte ich mich gänzlich auf der sicheren Seite, auch für neue Streckenfindungen. Die Kapriolen der Natur hatte ich bei diesem Gedanken allerdings nicht auf dem Plan. Sie hält hier andere Überraschungen bereit, als ich sie aus deutschen Breitengraden kenne. Ein Fluß ist ein Fluß - das habe ich nie hinterfragt. Bis ich dann eines Tages, auf halber Strecke vor eben einem solchen stand, der auf dem Hinweg noch nicht da war. Verlaufen hatte ich mich ganz sicher nicht, soweit waren meine Streckenkenntnisse fortgeschritten. Dieses trockene, steinige Tal durchquerte ich, als ich nach Carrapateira lief, um dort für eine Woche zu bleiben. Jetzt, auf dem Rückweg, stehe ich vor einem Fluß beträchtlicher Breite und Tiefe. "Na sowas?", stutze ich und erinnere mich meines Triahthlon-Trainings, bevor ich mich, mehr oder minder beherzt, in die Fluten stürze.
"Hier in Portugal ist der Boden knochentrocken und steinhart, so dass der Regen nicht einsickern kann", weiß Thomas zu berichten. "Oh ja, und Regen", zu portugiesisch Chuva, "hat hier ebenfalls eine andere Dimension", denke ich, mit einem flehentlichen Blick gen Himmel. Bindfadenrengen, tröpfeln, kurze Schauer - solcherlei Formen habe ich in Portugal nicht erlebt. Auch wüsste ich nicht, dass es dafür überhaupt irgendwelche Ausdrücke gäbe. Regen ist Regen. Und wenn die Sintflut nicht aufhört, ist es eben mehr Regen - "mais Chuva". Die Wassermassen bahnen sich genauso schnell wie sie herabkommen, einen Weg über den harten Boden durch das Land. "Unten in den Tälern wächst das auch schon mal zu einem stattlichen Fluß heran.", bestätigt Thomas meine jüngste Erfahrung. "Und zwar unerwartet schnell!"
"Das sind unerwartet schnell veränderbare Verhältnisse!", erkläre ich schmunzelnd, als Antonio mich eine Woche später fragend ansah, während er auf die Kennzeichnungen tippte, die ich auf der Karte vorgenommen hatte.
Alles in allem verstanden die Portugiesen nicht, dass man überhaupt bei "schlechtem Wetter" draußen aktiv ist. "Wir warten, bis es wieder sonnig ist.", erklärte mir Deborah schlicht, als ich eines verhangenen Tages, einen gemeinsamen Strandritt vorschlug und mich alle ungläubig ansahen. 

Wo ist Bert?
"Hätte ich damals die Karten besessen, ich könnte heute nicht von den unendlich vielen "Wo-ist-Bert-Ritten" erzählen. "Es ist wie verhext!", berichte ich ihm regelmäßig, wenn er und Galita, seine Lusitano-Stute, den Weg zu mir finden. "Gestern wollte ich mal wieder zu dir..." Bert sieht mich an, als wüßte er nicht, ob er mir Glauben schenken soll. "Habs wieder nicht gefunden.", berichte ich ihm zum xten male. Ich ziehe die Schultern in die Höhe und lasse sie wieder fallen, um zum Ausdruck zu bringen, dass dieses Unterfangen wohl keinerlei Chance auf Erfolg hat. "Es ist ein Fluch, wetten!", versuche ich der Lächerlichkeit zu entfliehen. Ich verstehe es ja selbst nicht. Wieso finde ich die Strecke zu seiner Quinta nicht? "Bert, lach bitte nicht. Das ist toternst!", versuche ich ihm klar zu machen. "Wir sind doch schon gemeinsam hin geritten?!", er lässt es gleichzeitig wie eine Frage und eine Aussage klingen. "Nöö, das war nicht ich.", behaupte ich und grinse mindestens so blöde, wie ich mir gerade vorkomme. Doch Bert zeigt Verständnis und wir beschließen, dass es an meiner Unaufmerksamkeit lag, als wir in meiner portugiesischen Anfangszeit zu ihm ritten. Alles war neu und hat meine Aufmerksamkeit beansprucht, nur die Streckenführung nicht. Bert war der Rittführer. Das ist das Phänomen des Sozius, beschließen wir und nennen es das Beifahrer-Syndrom. Später, als ich einen Blick auf die Karten von Antonio warf, begriff ich, dass ich über eine Hecke hätte reiten müssen, was aber komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht war und mich wieder und wieder in die falsche Richtung lenkte.

Räuber und Gendarm
Antonio indes habe ich nicht nur das polizeiliche Kartenmaterial zu verdanken. Von ihm lernte ich auch, dass leere Strände wohl ein Trugschluß sind.
"Böse Gangster lauern hinter den Dünen und beobachten dich!", warnt er, als würde er ein Märchen von der bösen Hexe im Wald erzählen. "Wenn du nicht hinsiehst, schlagen sie zu!" Ich schmunzel über seinen Unheil verkündenen Ton und diese Räubergeschichte, doch seinen Augen unterstreichen den Ernst seiner Worte. Ich sollte ihm noch Glauben schenken - schon meine missliche Lage sprach für den Wahrheitsgehalt seiner Märchenstunde. 


Alles geklaut
Ich entsinne mich der Aufgaben eines berittenen Polizisten. "Das ist dienstlich!", schnaufe ich ziemlich atemlos in den Telefonhörer. "Man hat mich bestohlen und ich weiß nicht, wie ich zurück kommen soll." "Wo bist du denn?", fragt Antonio. "Meia Praia. Mit dem Rad hin. Am Strand gelaufen. Beklaut. Rucksack weg. Klamotten für die Rückfahrt weg. Rad. Alles weg."  Ich hämmere die Infos ins Telefon und versuche ein Schnattern zu unterdrücken. Mir ist kalt, denn meine Kleidung für die Rückfahrt hatte ich im Rucksack verstaut und nun war sie weg. "Die Pferde sind schon im Stall, wir füttern gerade. Ich habe jetzt Feierabend." "Was?! Wie?", stutze ich. Ich hoffte, Antonio würde sich dieses Falles annehmen. "Ich bin gleich bei Dir.", höre ich und begreife. "Ok, prima, ich warte." 

"Da sitze ich also ausgepowert, im Triathlon-Zweiteiler am Strand von Lagos und friere. Glückwunsch, Sunny", applaudiere ich mir."Der Tag begeann ja auch zu schön." Leise seufze ich in mich hinein



"Ja, es war wahrhaftig ein schöner Morgen!", denke ich und versöhne mich mit meinem augenblicklichen 'Schicksal'. Glücklich lasse ich die Morgenstunden vor meinem geistigen Auge Revue passieren:
Ich krabbel aus meiner Koje in die Sonnenflut des Raumes, schlurfe hinaus auf die Terrasse und lasse den Schlaf  langsam von mir abfallen. Spürbar erwachen meine Sinne. Tief atme ich den typischen Duft dieser Landschaft ein, stehe einfach nur da, genieße die Stille. "So aufzuwachen ist jedesmal wie eine Geburt - eine Geburt in den neuen Tag, eine Geburt in das Leben.", flattert der Gedanke an mir vorbei. Mein Blick wandert hinab zu den Pferden, die im morgendlichen Frieden vor sich hindösen. Ich schlüpfe in meine Schlappen und schlendere zu ihnen. Die Ruhe, die sie ausstrahlen, lullt mich ein. Gemach reinige ich ihre Tränken, lehne seelig grinsend am Zaun, recke die Nase in die Sonne, während ich mit dem Schlauch das Wasser in die Bottiche fülle. Ich recke mich genüßlich, stehe einfach nur da und denke nichts. Ich schließe die Augen und sauge die Atmosphäre auf, tief hinein in jede Pore. "Ich erlebe hier wohl gerade die südländische Lethargie.", schmunzel ich über mein Arbeitstempo, mit dem ich mich an die Pferdefütterung begebe. Das Heu duftet nach deutschem Sommer und weckt Bilder in mir, die ich vorbeiziehen lasse. Thomas hat es aus Deutschland einschiffen lassen. Leicht und im Sinnesrausch schwebe ich weiter zum Pool und bestaune das Schattenspiel auf dem terrakottafarbenem Boden."Heute kein Krötenfischen.", registriere ich am Beckenrand stehend und bummel zum Haus zurück, um Wasser zu kochen. Mich gelüstet nach Kaffee. "Welch ein Morgen!", seufze ich, den Becher Kaffee auf den Knien balancierend, zwischen den beiden Porzellan-Löwen am Eingang zu meiner Terrasse sitzend. Tisch und Stühle stehen in der Sonne, hier im Schatten kann ich besser in meinen Kladden blättern, um zu checken welches Pferd, welches Training heute ansteht.


"Eine kurze Lektion mit Fancy, dann Strandtraining/Meia Praia, dann Chicco.", beschließe ich und schlüpfe in lange Hosen und feste Schuhe.
Die entspannte Stimmung des Morgens reißt auch beim Reiten nicht ab. Ich lasse die Atmosphäre fließen, durch meine Sinne, durch mich, durch das Pferd und zurück. So oder so ähnlich. Wie auch immer, ganz sicher aber macht es glücklich. "Herrlich!", bedanke ich mich bei Fancy nach dem Ritt. "Und wir beide sehen uns heute Abend.", weise ich Chicco ab, der mir erwartungsvoll entgegen trabt. "Der Tag ist noch jung. Ich sollte frühstücken.", entscheide ich und freue mich, dass im Kühlschrank noch eine "Masse Essen" steht, wie Thomas meine Hundereiskreationen scherzhaft nennt. Ich schöpfe eine Schale davon ab und tränke ihn mit Ahornsirup. "Hmmmmm", brumme ich genussvoll und löffel die Energie, die ich für den heutigen Tag benötigen werde. Die Meia-Praia-Läufe nutze ich immer für harte Trainings-Einheiten. Ich habe stets das Gefühl, meine gesamte Kraft dort gelassen zu haben, wenn ich anschließend mit dem Rad nach Hause eiere. "Mal abchecken, was Thomas heute vor hat.", denke ich nach meinem stärkendem Mahl und begebe mich auf den Weg zu ihm. "Will er heute reiten, werde ich mich am Abend mit Champion beschäftigen." Thomas reitet ausschließlich Chicco. Seine bevorzugte Gangart ist der Galopp, egal wie weit und wie lange er reitet. Es macht keinen Sinn, einen erschöpften Chicco ausbilden zu wollen. Thomas und seine beiden Hunde hat offenbar auch besagte südlländische Lethargie eingeholt. Ich lache laut heraus, als ich das Trio dort auf der Terrasse seelig dösend vorfinde und geselle mich dazu. Nach rund 1,5 Liter köstlich-kühlem Zitronen-Wasser besiegt der Tatendrang meine entspannte Trägheit. "So!", lasse ich bestimmt verlauten und erhebe mich prompt. "Genug des Müßigganges, ich starte jetzt durch!" Naris bremst mich aus, als sie mir zwischen die Füße springt, sichtlich begeistert über meinen Entschluß. "Ne Süße, sorry, heute ohne dich.", tröste ich sie und kraule ihren Nacken. "Nimm doch den Wagen, dann kann sie mit.", schlägt Thomas vor. Aber ich winke ab. "Bom diiiaaa!", verabschiede ich mich und laufe zurück zu meinem Haus. Die Erklärung, dass ich bei dem bevorstehendem Training kein Auge auf Naris halten kann, blieb ich ihm schuldig. Wie erklärt man auch einem Nicht-Sportler, dass man sich an den Rande des Ertragbaren bringen will und rundherum nichts mehr wahrnehmen wird, weil sämtliche Konzentration auf das Aus-und Durchhalten der Belastung gerichtet ist? Rasch verstaue ich warme Kleidung in meinem Rucksack und stopfe noch eine Flasche Wasser dazu. Ich weiß, dass ich nach 16-24 Km Auspowern an der Wasserkante für die Rückfahrt mit dem Rad wärmere Kleidung benötige, als für die Anreise. "Ich radel mir den Schmand aus den Beinen." Diese Erklärung blieb ich ihm nicht schuldig, als er sich mal erkundigte, warum ich denn nach so ermüdendem Lauf-Training noch freiwillig etliche Kilometer Radfahren würde. Doch genau daraus sollte heute nichts werden....


20 km Tempodauerlauf im Sand werde ich am Abend zu meinen Trainingsaufzeichnungen hinzufügen. Zufrieden mit dem Lauf stampfe ich durch den weichen Sand nach oben in die Dünen. Rad, Rucksack, warme Kleidung und Wasser hatte ich dort abgelegt.Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass ich bestohlen wurde, als ich von der oberen Dünenkante in die leere Senke hinabsah. Mit einem kraftlosem "Oh no!", lasse ich mich in den Sand plumpsen, schlinge die Arme um die angewinkelten Knie und unterdrücke ein Schlottern. "Und nun?", frage ich mich und entsinne mich der Aufgaben eines berittenen Polizisten...und rufe Antonio an.


"Mist, Unterzucker!", fluche ich leise vor mich hin, mit Blick auf meine tauben Fingerspitzen. "Obwohl ich doch wirklich gut 'getankt' habe", wundere ich mich. Ich unterschätze die intensiven Trainingseinheiten essenstechnisch immer wieder. Antonio findet mich Windschutz suchend hinter einem alten, verwitterten Ruderbötchen, das auf der Seite liegend einen netten Unterschlupf bot. Dankbar nehme ich die Hand an, die er mir reicht und lasse mir hochhelfen. Überzogen klimpere ich mit den Augen und mache einen Knicks. Stilecht, meine Ulkerei aufgreifend, legt Antonio mir seine Jacke um die Schultern. Wir schmunzeln beide. "Es gibt hier allerhand Alt-Hippies", findet Antonio zum Thema zurück, "die in verlassen Quintas im Inland leben und regelmäßig die Leute bestehlen.", erklärt er, als wir die Dünen ablaufen, um nach meinem Hab und Gut zu suchen. Ich weiß noch nicht, was ich von der Aktion halten soll, so hungrig, unterzuckert und frierend. Die Jacke hilft nicht wirklich und ich glaube nicht so richtig an die Räubergeschichte. In einer Senke zwischen den Dünen sehe ich jedoch die ganze Wahrheit: Ungezählte Taschen und Rucksäcke liegen dort verstreut herum. "Erst stehlen sie, dann plündern sie und werfen weg, was sie nicht brauchen." Ich begreife. "Was sollen sie auch mit so vielen Taschen.",scherze ich ein wenig bitter, denn es gingen auch Fotos der Sonderklasse verloren, die ich auf dem Weg zur Meia Praia vorher noch aus Lagos vom Foto-Shop abholt habe."Meinen laden sie vielleicht später noch hier ab?", denke ich laut, hoffend, dass die Bilder nicht verloren sind und beschließe beim nächsten Training dort erneut zu suchen. 

"Danger"
"Nun komm schon, Sunny!", versuche ich das Thema innerlich abzuhaken, "Du hast ein paar Bilder verloren - die Erlebnisse kann dir keiner steheln." Damit beerdige ich die Eindrücke, die ich bei einem Ritt in Carrapateira eingefangen haben, oben von den Klippen. Die Bilder sollten zu den anderen, die bereits die Wände des kleinen Büros am Stalltrakt zieren. "Denk doch mal an deine Zeit in Südamerika - es existiert nicht ein einziges Foto!" Ich schleppte damals Taschen, gefüllt mit Filmrollen, nach Deutschland, um sie dort entwickeln zu lassen und zu erfahren, dass meine Kamera wohl defekt gewesen sein muss - und zwar von Anbeginn... Ich beschließe, den Verlust dieser wenigen Aufnahmen hier aus Portugal würdevoll zu verkraften. "Beinahe hättest du im Rausch der Fotografie dein Leben verloren, also begklage dich nicht über ein paar Aufnahmen!" Spontan lache ich heraus, als meine Gedanken zu jenem Tag an den Klippen wandern. "Stell dir nur vor!", beginne ich Antonio meinen Heiterkeitsausbruch zu erklären. "Ich war oben an den Klippen unterwegs und habe ganz fasziniert Bilder geschossen. Die Abendsonne tauchte die Felsen in dieses warme Honig-Gelb." Ich demonstriere ihm, wie ich durch den Sucher der Kamera blicke, das Gerät dicht vor dem Gesicht und mein freies Auge zugekniffen. Zur Erklärung: Meine erste digitale Kamera sollte ich etliche Jahre später in den Händen halten. Antonio stiert mich an, als wisse er, was ich nun berichten wolle. Langsam tappse ich mit der imaginären Kamera vor meinem Gesicht durch die Dünen. Unentwegt betätige ich den Auslöser: "klick - klickklick - klick", lasse ich verlauten, den Kopf nach links und rechts drehend, während ich mich langsam vorwärts schiebe. Ich bleibe auf der oberen Kante der Düne stehen, lasse die Hände sinken und zeige nach unten. Beide Füße ragen über die Sandkante hinaus. "Das ist die Klippe!", erkläre ich. Ich war gefangen im Bann des wunderbaren Lichtes, verzaubert vom Sonnenuntergang im Meer und hätte diesen Augenblick beinahe mit dem Leben bezahlt! Antonio staunt mich mit aufgerissenen Augen an, als frage er mich "Und dann?" Rittlings lasse ich mich auf mein Hinterteil in den Sand plumpsen und erzähle, wie ich dort, nahe der Klippe auf dem Rücken liegend, wie irre in den Himmel gelacht habe, bis die Mischung aus Entsetzen und Erleichterung nachließ.
"Ein Wunder, dass du so alt geworden bist, wie du bist!". Auf meiner Fahrrad-Tour von Alaska nach Feuerland bekam ich dies zu hören, als ich im tiefen Dschungel versehentlich den falschen Kanister zum Durstlöschen wählte. Einer enthielt Trinkwasser, der andere Gebrauchtwasser, das ziemlich sicher hoch verkeimt war. Aber die Pan Americana -Tour sollte fünf Jahre später stattfinden, was beweist, dass Spontanität und Lebenslust, kombiniert mit Reisen verschiedendlichster Art, Sport, Reiterei, was auch immer mir vorgehalten wird, es seie gefährlich, nicht zwingend tötlicher ist, als das sesshafte Leben, mit Trinkwasser aus der Leitung. Doch damals, als ich gierig große Schlucke "Drecksbrühe" in mich hinein beförderte und mir jenen Kommentar eingefangen habe, (aber keinen Durchfall oder ähnliche Gebrechen) dachte ich an meine Foto-Session an den Klippen zurück. Anonio reitet dort oben regelmäßig Streife und weiß um die Gefahren. Der Sandstein dieser Klippen ist brüchig und es passiert durchaus, dass große Stücke Land einfach der Gravitation nach unten folgen... Hinzu kommt, dass nichts gesperrt, eingezäunt, oder gar verboten ist. "It's danger!", sagt er trocken und schluckt. "You are dangerous!", kombiniert er, warum auch immer und schon habe ich meinen Spitznamen: "Danger".


Wer geboren wird, muss sterben. Und vorher leben.
Danger? "Gerechterweise steht solch ein Spitzname doch jedem zu?", beginne ich mich mit diesem neuerworbenen Nickname auseinander zu setzen. "Immerhin - das Leben ist tödlich", schiebt sich der Gedanke durch meine Hirnwindungen. " Wer lebt, stirbt auch. Soviel ist klar". Ich weiß - neu ist das nicht, aber immer wieder schlüssig und plausibel, in seiner Schlichtheit. "Jeder, der geboren wird, stirbt auch. Unabhängig davon, was er zwischenzeitlich lebt". Antonio sieht mich an und nickt langsam sein gedankenbegleitetes Nicken, das ich bei ihm so oft schon gesehen habe. Eine Antwort auf diesen Kommentar erhielt ich ein Jahrzehnt später. Augenblicklich jedoch sitzen wir in seinem Auto und rumpeln über die staubig-steinigen Wege. Er setzt mich zu Hause ab. "Muito obrigada!", bedanke ich mich für seine Rettungs-Aktion. "Hast du noch ein Fahrrad?",will er wissen. "Si, si!", nicke ich, was dazu führte, dass wir uns für den nächsten Tag zum biken verabredeten. Ich klopfe zum Gruße auf das Autodach, "Also dann - até amanhã!" und steuere geradewegs mein Haus und den dort wartenden Rest "Masse Essen" an, um nicht auch noch Chicco während des Trainings zu verlieren.... Der Ritt war nicht minder genüßlich, als der morgendliche mit Fancy. Meine Körper war trotz Intensiv-Trainings am Strand, nach einem gewissenhaften Stretching wieder geschmeidig, wach und entspannt. Chicco in seiner willigen Lernbereitschaft "arbeitete" mit mir in der Abendsonne konzentriert und gelöst mit. "Im Grunde", denke ich nach dem Ritt versonnen, während ich das Sattelzeug Richtung Container trage und Chicco mir erwartungsvoll hinterher sieht,  "Im Grunde ist es ein gemeinsames Spiel. Wer hat das warum nur 'Ein Pferd arbeiten' getauft?", schießt es mir durch den Kopf. "Selbst das 'Drumherum' ist Entspannung pur", denke ich während ich zwei Heuballen zum Paddock trage. "Ooooolá!", grüße ich erfreut den unerwarteten Besuch. Jan findet an diesem Abend noch den Weg hierher. Er erkundigt sich nach seinem Pferd, Champion. Nebeneinander auf einem Strohballen sitzend, fachsimpeln wir über die Reiterwelt und die Welt an sich. Die friedliche Stimmung, die die gemächlich, entspannt vor sich hin kauenden Pferde ausstrahlen, lullt uns ein. Begleitet vom Konzert der Grillen verabschiede ich mich und begebe ich mich ebenso glücklich in meine Bettestatt, wie ich sie heute verlassen habe. "Welch ein Taaag.", murmel ich noch seelig vor mich hin und schlafe ein. 


Mein Lebensretter
Mag sein, dass mein neu erworbener Name dazu beigetragen hat - am Morgen wache ich jedenfalls mit Gedanken an den Einbruch auf, den Naris und ich, in einer meiner ersten Nächte hier im Süden, vereitelt haben.  Na ja, unwissentlich vereitelt. Zumindestens mich betreffend. Naris wusste mehr, als ich - so viel ist sicher. Ihr war nämlich klar, dass sie nicht nur ein dunkles Fenster in der Nacht anbellte. Mir hingegen nicht. "Komm Naris", versuche ich sie verbal durch die Dunkelheit zu mir zu lotsen. Erfolglos. Naris ist außer Rand und Band. "Boah!", staune ich verschlafen, "Du klingst ja wirklich gefährlich!" Ich tappse durch die finstere Villa und suche mit der Hand nach einem Lichtschlater. "Wo ist das Teil nur?", fluche ich leise, während ich mich Richtung Geräuschpegel bewege. "Naris! Was ist nur in dich gefahren?! Beruhige dich doch." säusel ich mit Engelsstimme in ihre Richtung. Da endlich finden meine suchenden Finger den ersehnten Lichtschalter. Ich blinzel in den plötzlich erhellten Raum. Beinahe auf Knopfdruck verstummt Naris. Sie fiepst noch ein bisschen Richtung Dunkelheit nach Draußen, beruhigt sich aber fast augenblicklich. Klar! Mit dem Erleuchten des Villa-Inneren, habe ich mich den Einbrechern unübersehbar präsentiert..so im Nachtgewand aus f'ast Nichts', sozusagen Aug in Aug, nur durch eine Fensterscheibe getrennt. "Gute Nacht.", murmel ich und freue mich auf mein Bett - nicht einen Gedanken daran verschwendend, dass Naris einen triftigen Grund hätte haben können, derart zu randalieren. Der folgende Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse, doch am Abend wusste Thomas zu berichten, dass nächtens ein regelrechter Raubzug durch sämtliche Villen der Gegend stattgefunden hat.
Heute Morgen fällt mir diese Anekdote beim Aufwachen ein. "Ein Glück, dass sie mich nicht auch als Beute angesehen haben!" Mit diesem Gedanken springe ich auf und jogge Richtung Pferdepaddock. Naris stöbert, fernab von allem weiteren Geschehen auf diesem Erdenball, im Feigenbusch - irgendetwas hat ihre Aufmerksamkeit dort erregt. "Hey, Süße!", rufe ich sie, aber sie huldigt mich nur eines kurzen Blickes und stopft ihre lange Nase wieder tief in den Busch. Verzückt über ihr Talent der Selbstvergessenheit, beobachte ich eine Weile, wie sie, das Hinterteil erhoben, kopfüber darin zu verschwinden droht. "Mein stolzer Wachhund!", seufze ich, "Mein Lebensretter!" 


Manna Manna
"Wollen wir meinen Lebensretter mitnehmen?" Antonio hieft ein Mountainbike aus dem Kofferraum seines Autos. "Wieso Lebensretter?", will er wissen und schaut aus der Wäsche, als wüßte er, dass meine Antwort wieder gegen sein Sicherheitsempfinden steuert. Während er das Vorderrad montiert, gebe ich die Einbruchs-Geschichte zum Besten. "Gut", sage ich, "Ich habe ja jetzt Polizei-Geleit." und schicke Naris, die um uns herumhüpft, zu Thomas.
Wir lassen uns vom steinigen Gelände des Inlandes durchrütteln und spüren die Kraft der Sonne. Der Wind streicht weich und schmeichelnd über die nackte Haut von Armen und Beinen und über das Gesicht. Die Luft duftet so portugiesisch, wie sie nur portugiesisch duften kann. "Gostooooo muuuiiiitooooo!!!", gebe ich vergnügt quietschend meiner Begeisterung Ausdruck und sehe in Antonios angespannte Mine, als ich mich lachend zu ihm umdrehe. Huch? Er ringt sich ein Lächeln ab, das auf halbem Wege verunglückt. "Tudo bem?", ich lasse mich zurückfallen, bis ich neben ihm bin. "Alles ok?", frage ich nochmal nach. "Heiß. Hunger. Müde. Nichts gegessen." Antonio schnappt nach Luft und spuckt atemlos die Infos heraus. "Ich habe dich unmittelbar nach der Arbeit abgeholt.", erklärt er, als sein Puls ruhiger schlägt. "Um 5 Uhr aufgestanden. Den ganzen Tag mit den Pferden gearbeitet. Jetzt stundenlanges Radfahren!", schnauft er. Stundenlanges Radfahren? "Ach typisch, Danger!", grinse ich, "Ich habe tatsächlich nicht bemerkt, wie die Zeit ins Land ging!" und schlage vor, Richtung Küste zu fahren. "Wir können dort an den Klippen, oder am Strand in einer Bucht pausieren?" Mein prüfender Blick in Antonios Gesicht findet nur Zusage und Bejahung, während er, diesmal vollendet, lächelt und nickt. "Andale!", rufe ich, als wir die asphaltierte Straße erreichen und tief über die Lenker gebeugt, die Geschwindigkeit genießend, bergab zur Küste brausen. "Gosto muuuuiiiitoooo!!!" Diesmal ist es Antonio, der diesen Wonneruf lachend in den Himmel schickt. Wir erreichen glückstrahlend den Strand, um erholt von der Bergabfahrt und vollgepumpt mit Glückshormonen, wie es scheint, die Klippe zu erklimmen, und den Blick über das Meer von oben genießen zu können. "Ich steeeeerbe!", vernehme ich hinter mir und sehe bestürzt auf einen fahl aussehenden Antonio. "Unterzucker", rufe ich Antonio zu, der wie ein Häufchen Elend sein Bike Meter für Meter nach oben quält. "Manna Manna", versuche ich, wohl wenig tröstlich, meine Feststellung zu übersetzen. Wie kann man 'Unterzucker'  und das Beheben seiner Symptome auf Portugiesisch erklären, während man auf schwerem Gerät, über mehligen Boden steil nach oben ackert? 


"Ich sterbeeee"
Dünn ertönt Antonios Hilferuf. Ich drehe mich zu ihm um und fange einen flehentlichen Blick auf. "Ach was, das kriegen wir schon wieder hin.", ignoriere ich künstlich seinen augenblicklichen Leidensweg. "Laaangsm und gleichmäßig.", versuche ich ihn aufzumuntern und finde, dass ich lediglich wie ein Klugscheißer klinge. Unterzucker. Der Albtraum eines jeden Sportlers. Ich weiß, dass ich ihm nicht helfen kann. Bei Unterzucker hilft Zucker. So einfach ist die Rechnung. "Ich sterbeeee.", pfeift Antonio als Antwort durch die Zähne. Den flehentlichen Blick tauscht er gegen einen ausdrucklosen ein, der weder ins Innere, noch nach Außen gerichtet ist. Das Wesen des Unterzuckers - hier zeigt es sich in seiner ganzen Bandbreite. "Mist!" denke ich und beginne mit dem Ausschöpfen meiner Möglichkeiten. "Wie machst du das nur?...Du siehst blendend dabei aus!", ich schicke mein süßestes Lächeln, doch es trifft nur den Blick eines vom Unterzucker Besiegten. "Ich...ster - be." Dieser Feststellung folgt ein zischendes Geräusch. Es erinnert mich an den Sound, den das Ventil meiner Isomatte verlauten lässt, wenn ich mich auf sie knie, um den letzten Rest Luft aus ihr heraus zu pressen. "Trefflicher Vergleich.", denke ich und entdecke auch gewisse äußerliche Ähnlichkeiten, als ich mich zu Antonio umdrehe. 
"Ich".... schlüpft es mit letzter Not über seine Lippen. Für die Vollendung des Satzes muss er zunächst noch Kräfte mobilisieren, die jenseits des dunklen Tales ruhen, durch das er da gerade schreitet. Ich schwöre - ich war in großer Sorge um meinen Begleiter. Warum ich ausgerechnet jetzt an die Kukuksuhr denken muss, die im idyllischen Friesland eine Küchenwand ziert? Ich weiß es nicht. Das Vögelchen, das stündlich sein "Kukuk" ungefragt und unmelodisch heraus krakehlte, wurde von einem entnervten Ostfriesen kurzerhand mit dem Luftgewehr abgeschossen. Fortan läßt es stündlich ein "Kuk" verlauten. "Zum Kukuk!", denke ich und kann die Wege meiner Assoziation selbst kaum nachvollziehen. "Daher der Ausdruck 'bin ich erschossen'! 
"....sterbe.", vollendet in diesem Augenblick Antonio sein Satzgefüge -  mit dem zweiten Kuk. Wir erreichen das Plateau der Klippe, steigen von den Rädern und lassen sie undankbar auf die Seite plumpsen. "Nein, gewiß nicht!", beginne ich einen weiteren, hilflosen Versuch des Trostes. "Sogar ich, Danger, habe hier überlebt. Das ist doch ein gutes Omen!", komme ich auf Antonios Sterbetheorie zurück. Wir setzen uns nahe der Klippe neben unsere Räder auf den staubigen Boden. Aus dem Schneidersitz strecke ich ein Bein nach vorne und zeichne mit dem Fuß ein X in die Erde. "Da schau, hier ist es! Meine 'Beinahe-Absturz-Stelle'!" Antonio liegt mittlerweile auf dem Rücken und hebt schwerfällig den Kopf. Unter seine Bräune mischt sich Blässe. "Mit Tendenz ins Gelbliche!", stelle ich erschrocken fest und leide innerlich mit ihm. "Die Fooooto-Sessiooon!", versuche ich meine Geschichte von gestern in sein Gedächtnis zurück zu holen. Und siehe da - ein Funken Leben zuckt durch seine Augen.  "Danger.", nuschelt er und blickt in die Tiefe meines vermeindlichen Grabes.
Ermutigt durch dieses Lebenszeichen beschließe ich, ihn mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren: "Bei Unterzucker hilft Zucker.", beginne ich. "Wir haben keinen.", füge ich hinzu.
Erfahrung ist eine Komponente, die einen über Wasser hält, während des "Ich-sterbe-Zustandes". Man lernt mit der Zeit, das Leiden an- und hinzunehmen, getragen von dem Wissen, dass diese 'Nahtoterfahrung' in Wirklichkeit keine ist und bis dato jedesmal überlebt wurde. So unerwünscht es auch ist, es kommt vor. Selbst wenn man glaubt, jede benötigte Kalorie berechnet und zu sich genommen zu haben. Es passiert einfach. Man lernt den Unterzuckerterror kennen, verachten, aber auch zu handeln. Durch Erfahrung. Antonio fehlt augenblickblich beides - sowohl der Zucker, als auch die Erfahrung. "Das wird nicht besser, nein, es wird schlimmer werden!", präsentiere ich ihm das logische Fazit der ganzen Wahrheit. "Ich sterbe. Was kann da schlimmer werden?"  Ich springe auf und schnappe mir mein bike. "Ich fahre nach Lagos und komme mit Essen zurück.", erkläre ich auf Antonios fragenden Blick. Er setzt zur Widerrede an. "Oder du findest dich damit ab, dass es sich die nächsten Stunden noch elendiger anfühlt?!", stelle ich zur Wahl. Er nickt. "Bem. Dann los." Anerkennend und mit verstecktem Mitleid klopfe ich ihm auf die Schulter.

"Der hat genug vom Sport!", behaupte ich, nachdem ich Bert meinen Tag berichtete. Dieser schaut mich aus den Augenwinkeln an und zieht schmunzelnd die Brauen in die Höhe. "Wer weiß?", lese ich aus seiner Mimik. "Ach was!", ich winke mit einer ausladenden Bewegung ab...nicht ahnend, dass wir heute Tag 1 aus Antonios Sportler-Karriere geschrieben haben.